Im Kampf mit dem Zyklopen

Kat Válasturs „Oh! Deep Sea – Corpus II“ tanzt im HAU 3 nach Homers Odyssee

Berlin, 27/04/2011

Hinreißend Ulrich Leitners Bühnenbild: Wie das Skelett eines in sich schwingenden Sauriers hängen Lichtstäbe über der Szene im HAU 3 und beleuchten im Weiteren jeweils den Standort der zwei Tänzer. Nicht aber um fossile Funde dreht sich „Oh! Deep Sea – Corpus II“, sondern um die Begegnung von Odysseus und seinen Gefährten mit den Zyklopen. Auf der Rückkehr aus dem Krieg um Troja irrten sie bekanntlich zehn Jahre durch Meer und Wind und veranlassten Homer zu einem der wichtigsten Epen europäischer Literatur. Auch die Griechin Kat Válastur fühlt sich von jener Verserzählung angeregt. Als Absolventin des Masterstudiengangs am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz in Berlin geht sie ihr Thema freilich nicht narrativ an. Um die Irrfahrt von Körpern durch Raum und Zeit, so im Programmheft, dreht sich der zweite Teil und beeindruckt 75 Minuten lang durch seinen konsequent radikalen Minimalismus. Auf hellem Grund stehen in Benjamin Klunkers meerblauem Joggingdress Kat Válastur und der Japaner Yohei Yamada mit dem Rücken zum Zuschauer, er im Parallelstand, sie in Schrittstellung, und wippen zu Arik Hayuts leisem, wie vom Wind zerteiltem Grollen mit verschiedener Körperauslenkung. Das Auge des Zyklopen, als das Leitners Leuchtgebilde deutbar ist, hat sie stets im Blick. Größer wird seine Pumpbewegung und lenkt ihn nach links aus, während sie die Arme mit einsetzt und hörbar atmet, bis im Höhepunkt unerwartet ein Impuls jeden vom Platz schleudert, als habe ihn eine Welle getroffen.

So wandern beide unabhängig voneinander durch den Raum, starten ihre vom Mittelkörper ausgehende Wellenbewegung neu, und doch scheint ein geheimer Energiefluss sie zu verbinden. Auch die den Vorgang illuminierenden Lichtstäbe „wandern“ mit. Was indes wie bloße Wiederholung ein und derselben diffusen Abfolge um Balance ringender Körper wirkt, variiert an den Orten im Raum. So übernimmt er mit zunehmender Auslenkfrequenz das hörbare Atmen, sie reckt einen Arm ihm entgegen, als suche sie bei ihm Hilfe und Festigkeit. Die letzte Großbewegung wieder schleudert zum neuen Platz der Irr-Reise. Da landet er in Schreitposition, sie im Parallelstand. Bisweilen mühen sich beide auf gleicher Höhe im Raum ab, meist indes trennt die „Flut“ sie voneinander, was dem Raum unterschiedliche, wellenbedingt zufällige Struktur gibt. Nur in wenigen Momenten, unerwartet, wendet sich einer der Tänzer um, steht kurze Zeit, zeigt sein Gesicht, blickt ins Publikum. Überwiegend jedoch finden die Vorgänge mit dem Rücken zum Saal statt, ist Individualität ausgeschaltet, löst sich in pure Bewegung auf.

Wie zur Selbstversicherung von Kraft spreizt Yamada die Finger einer Hand, ballt sie zur Faust, bis „Windböen“ der Klangwelt ihn wieder ohnmächtig vorantreiben. Auch in die Hüfte gestemmte Arme verleihen nicht mehr Stärke im Kampf mit jener Übermacht, als die sich das Meer und die nach oben offene, nach hinten abfallende Leuchtkonstruktion erweisen. Yamada, der überhaupt den Großteil der Aktion trägt, wird zum umgetriebenen Roboter, der orientierungslos wie ein von unsichtbarer Hand gelenktes Wesen umherirrt. Körperteile verdrehen sich, rasten sichtbar ein. Es reißt ihn zuckend um, bis er, Schultern hoch, verharrt. Zug-, Zuck-, Druck-, Schwingbewegung erfassen ihn, verschraubt setzt seine Hand ein. Válastur knickt zunehmend ein, geht zu Boden in der Pose des „Sterbenden Galliers“, jener römischen Kopie eines griechischen Originals. Auch ihn drückt es nieder, was nicht das Ende aller Bewegung bedeutet. Beide rappeln sich erneut auf, stehen, die Arme über dem Kopf, mit Blick zum Saal, enden ihre Recherche weit hinten im Augenwinkel des Zyklopen. Als stehendes Bild blitzt mehrmals auf: Mit künstlichen Händen langt Yamada nach der in stummem Schrei sitzenden Válastur. Der Zyklop hat zugegriffen.

Wieder 28.4., 20 Uhr, Teil I 30.4. + 1.5., HAU 3, Tempelhofer Ufer 10, Berlin

Infos unter www.hebbel-am-ufer.de

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