Vom Wiedersehen nach langer Zeit
„Kameliendame“ 40 Jahre nach der Uraufführung wieder beim Stuttgarter Ballett
Als dramatischer Tänzer wird man geboren – anders als perfekte Pirouetten oder eine reine klassische Linie lässt sich die Eignung für Cranko, Béjart und Neumeier nicht erlernen. William Moore ist so ein dramatischer Tänzer von faszinierender Bühnenpräsenz und Intensität, der Schauspiel und Tanz nie trennt, sondern jede Emotion mit dem ganzen Körper ausdrückt, ohne jedes Nachdenken oder Kalkül. Er „erhellt die gesamte Bühne, sobald er nur einen Fuß darauf setzt“, mit diesen schönen Worten hat sein Ballettdirektor Reid Anderson das außergewöhnliche Charisma des jungen Briten beschrieben. Friedemann Vogel war alles andere als ein dramatischer Tänzer, war zu Anfang seiner Karriere weit davon entfernt als exzellenter Danseur Noble von feinster Haltung, aber immer ein wenig blass in der Darstellung, mit wenig Mimik und einem Port de bras voll Stil statt Ausdruckskraft – der geborene Prinz. Vielleicht war es Marco Goeckes „Orlando“, der ihn verändert hat, aber eigentlich hat es bereits früher begonnen – sein Lenski war immer schon immer ein verletzlicher, empfindsamer Poet, sein erster Armand in John Neumeiers „Kameliendame“ im November 2006 ließ plötzlich aufmerken. Bei aller Entwicklung aber wirkt Vogel immer noch wie ausgewechselt, wenn er sich heute rückhaltlos in die laszive Erotik von Béjarts „Bolero“ wirft, wenn der Schöne zum Tier wird und in seinem triumphalen Lächeln das Geheimnis des Stücks vor uns verbirgt. Was für eine Wandlung!
Was Vogels Porträts in Cranko- oder Neumeier-Balletten so außergewöhnlich macht, ist die aufrichtige menschliche Feinheit seiner Figuren. Sein Armand ist ein zurückhaltender, fast scheuer Einzelgänger, der sich nicht einfach in Marguerite verliebt, sondern diese Liebe in einer ernsten, wesensverändernden Ergriffenheit erlebt. William Moore, der am Sonntag inmitten einer komplett neuen Besetzung in der Rolle debütierte, bewegt sich offener im Kreis seiner Freunde, in der mondänen Welt – er hat vielleicht noch nicht ganz verstanden, warum Neumeier seine beiden Protagonisten anfangs einsam an die Rampe gehen und so verloren ins Leere schauen lässt. Beide, Vogel wie Moore, tanzen die Rolle völlig mühelos, mit weiten, hohen Sprüngen, beide sind souveräne Partner und entwickeln das Porträt Armands in einer nie abreißenden, spannenden Steigerung über das unmittelbare Entsetzen durch Marguerites Brief, die dumpfe Betäubung zu Beginn des letzten Akts, die Zerrissenheit im dritten Pas de deux bis zur zynischen Aggression beim letzten Ball.
Müsste man sich festlegen, wozu Maria Eichwald geboren wurde, dann wären es wohl Giselle oder Aurora, jedenfalls eine der klassischen Rollen. Sie ist eine sehr kluge Tänzerin, in deren Porträt der liebenden Kurtisane jede Nuance und jeder Blick stimmen, alles ist subtil durchdacht, intelligent gestaltet und von einer leisen Melancholie umweht – ergreifend etwa der Moment, als sie in der Konfrontation mit Monsieur Duval realisiert, dass sie Armand gehen lassen muss. Dennoch hält sie vom völligen Eintauchen in Marguerites Gefühlstiefe das letzte Restprozent Ballerina zurück - die etwas zu schönen Hände und Beine, wo es in den passionierten Pas de deux von Akt zu Akt unwichtiger wird, ob der Fuß perfekt gestreckt ist, die Hand rund und wohlgeformt. Neumeiers Dramatik verlangt stattdessen den Tanz mit dem gesamten Körper, vor allem mit Oberkörper und Kopf, man muss sich gewissermaßen mit dem Herzen voraus in die Bewegungen werfen. Genau diese Freiheit der Interpretation, die man von langjährigen Neumeier-Tänzern wie Jiří Bubeníček oder Lloyd Riggins kennt, nimmt sich William Moore bereits bei seinem erstaunlichen Debüt – mit Tänzern seiner Art sind diese Rollen einst kreiert worden. Was für ein Fehler, Dame Monica Mason, ihn nicht direkt von der Royal Ballet School nach Covent Garden verpflichtet zu haben, was für ein Glück für Stuttgart.
Wenn die drei Verehrer in der ersten Szene in der Opéra den Blick auf Myriam Simon freigeben, erschrickt man fast, ähnelt sie doch mit ihren hohen Wangenknochen der Urbesetzung Marcia Haydée. Sehr viel näher aber wird sie ihr an diesem Abend nicht kommen, denn Simon bewältigt die Rolle technisch gerade mal so, bleibt in der Darstellung oberflächlicher, als man es von ihr erwartet hätte. Ihr fehlt die Weltmüdigkeit, diese stille Traurigkeit, aus der Marguerite durch Armand ins Leben zurückgeholt wird. Noch spielt Simon den Part von Szene zu Szene, reagiert manchmal geradezu falsch, etwa wenn sie beim Nachhausekommen von der Oper ihre Nanina munter anstrahlt, als würde sie ihr zum ersten Mal begegnen. Gegen Ende lassen ihre Kräfte nach, Moore muss sie richtiggehend mitreißen, die mangelnde Chemie zwischen beiden rührt aus ihrer noch unfertigen Rollengestaltung her.
Neben der lebhaften, spontanen Rachele Buriassi als Prudence und einem eher auf Freundschaft als auf französische Raffinesse bedachten Gaston Rieux (Alexander Jones) debütierten Hyo-Jung Kang und Brent Parolin als Manon und des Grieux. Sie kommen bei aller Eleganz noch nicht an die tänzerisch exquisiten Porträts von Anna Osadcenko und Evan McKie heran, die das leicht übertriebene Bühnenpathos der beiden fiktionalen Figuren genau in den Momenten verlieren, als sie durch Marguerites Träume geistern und zu Identifikationsgestalten für sie werden.
Man könnte meinen, es ist ein Stuttgarter Problem, aber auch in Hamburg fehlen bald die großen dramatischen Ballerinen, derzeit gibt es bei den Männern wesentlich interessantere Tanzschauspieler. Alina Cojocarus Hamburger „Kameliendame“-Debüt im Herbst könnte die große Rettung werden.
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