Die Faszination des Bösen

Neue und alte Besetzungen im Stuttgarter "Dornröschen"

Stuttgart, 05/10/2005

Je mehr andere „Dornröschen“ man sieht, desto stärker muss man Marcia Haydées Stuttgarter Version bewundern, die zwar - wie jede Neuinszenierung im klassischen Stil - wesentliche Teile der überlieferten Petipa-Choreografie aufgreift, die aber alles andere als klassizistisch ist. Die böse Fee Carabosse, die hier als dramatischer Tänzer aus dem Geiste Crankos durch die brave, wohlgezierte Danse-d'école-Tänzerschar fegt, versetzt nicht nur den Kindern im Publikum, sondern auch den Bewahrern der reinen Klassik einen Schauder. Der schwarze Engel im Kabuki-Look aber rettet das Ausstattungsstück vor allzuviel Pantomime und Geschreite, er rückt den Klassiker aller Klassiker weg von der Nummernfolge näher hin zum dramatisch erzählten und vor allem fast durchweg getanzten Märchen.

In idealem Zusammenwirken von Choreografie und Ausstattung erzählen Haydée und Bühnen- und Kostümbildner Jürgen Rose die Geschichte so, dass man zum Verständnis keine Inhaltsangabe mehr braucht. Mit jedem neuen Bild sieht man die zeitliche Veränderung - die Bäume wachsen, die Rosensträucher überwuchern die Arkaden, Dornröschen wächst vom Kind zum jungen Mädchen heran. Haydées Änderungen sind gerade im Falle von Carabosse auch noch äußerst musikalisch choreografiert. Ihre fast zwanzig Jahre alte Inszenierung mit der traumhaften Ausstattung Jürgen Roses ist ein Signaturwerk des Stuttgarter Balletts geworden, das man hier sicher ebenso lange spielen wird wie die Cranko-Klassiker.

Nach der Wiederaufnahme im Juli haben sich die Rollen bei den Neulingen gefestigt, und zu Saisonauftakt präsentiert das Stuttgarter Ballett inmitten eines geistig noch nicht ganz aus dem Urlaub zurückgekehrten Corps de ballets zwei Prinzen der absoluten Luxusklasse: Friedemann Vogel und Mikhail Kaniskin tanzen ungetrübt souverän, vollkommen wie im Lehrbuch. Dabei legt Kaniskin mit seiner schönen Linie den Akzent mehr auf die lautere Klarheit der Kirov-Schule, Vogel ein wenig mehr aufs Spektakuläre (während Prinz Desiré bei Filip Barankiewicz dann ganz zur Virtuosenrolle wird - mit tollen Sprüngen und seinen wohlbekannten perfekten Double Tours, aber fast ohne St. Petersburger Prinzen-Noblesse). Vogel spielt geradezu mit der Rolle, er phrasiert elegant und nuancenreich, springt leicht und hoch, seine Manège im Schluss-Pas-de-deux gelingt spektakulär schön. Schade nur, dass er ein so unkommunikativer Tänzer ist, der nur dann wirklich brillant ist, wenn er mit sich alleine tanzt. Das Lächeln für seine Prinzessin Maria Eichwald kommt eher pflichtgemäß, wie mit dem Schalter betätigt.

Kaniskin dagegen partnert in jeder Hinsicht liebevoll, die „Fische“ im Grand Pas de deux gelangen zusammen mit Elena Tentschikowa mühelos und schlichtweg perfekt. Würde nicht manchmal die russische Ballerina mit ihr durchgehen, wäre auch Tentschikowa mit ihrer stählernen, absolut zuverlässigen Technik ideal in der Rolle. Aber wenn Dornröschen in ihrer Solovariation im Schluss-Pas-de-deux plötzlich wie Kitri kokettiert, dann stimmt das Porträt nicht mehr, schon gar nicht in Haydées Märchenversion.

Katja Wünsche, die jetzt mit Filip Barankiewicz tanzte, absolviert die Rolle technisch bewundernswert souverän, mit schönen, sicheren Drehungen, einem spannenden Rosen-Adagio und liebevoll-mädchenhaften Akzenten, etwa wenn Aurora aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht und sich erstmal ordentlich streckt. Was ihr noch fehlt, ist eine eigene Note - nicht im Spiel, sondern in der Bewegungsart: etwas wie die sublime Grazie Maria Eichwalds, die klaren russischen Akzente von Tentschikowa oder das ebenmäßige Fließen von Julia Krämers Stil, die das letzte deutsche Dornröschen in Stuttgart war.

Anders als ihre beiden Kolleginnen beherrscht Maria Eichwald die Kunst, die Anstrengung der schwierigen Rolle auf ihrem Gesicht niemals auch nur aufscheinen zu lassen. Neben den atemberaubenden Balancen im Rosen-Adagio hat sie für jeden der vier Bewerber auch noch ein eigenes, aufrichtiges Lächeln. Überhaupt macht das viel von ihrem Zauber aus, dass sie stets den Augenkontakt mit ihren Partnern sucht, dass ihr Stil nicht nur technisch bis in Letzte ausgefeilt, sondern auch in der Interpretation bis ins Detail verfeinert ist.

Haydées Version hat drei Hauptrollen, die böse Fee Carabosse wird zum Schluss regelmäßig am meisten bejubelt. Die Rolle wurde mit allen Interpreten sorgfältig einstudiert, auch mit dem jetzigen, noch etwas ängstlichen Debütanten Douglas Lee. Er erinnerte sich in seiner dritten Vorstellung doch noch daran, dass er eigentlich ein guter Schauspieler ist; bis dahin blieb seine Carabosse eher holzschnittartig und très Kabuki, mit verbitterten Mundwinkeln und verhärmten Schultern. Lee entwickelt die mörderische Wut der nicht zum Fest Eingeladenen erst aus der Tatsache, dass sie das Kind in der Wiege nicht sehen darf - wenn er ganz zum Schluss die Bühne überquert und die bunte Schluss-Apotheose betrachtet, ist er eher verletzt als überlegen.

Jason Reilly dagegen genießt das Entsetzen, das er verbreitet. Bei ihm ist klar, dass das Böse ewig leben wird - schon weil es so viel faszinierender ist als das Gute. Mit einem dämonischen Lächeln macht er die Apotheose zum Widerhaken in Haydées Inszenierung, die ganz am Schluss das Böse nach außen, vor das eingerahmte Happy End stellt und so das ganze Ballettmärchen in die Fiktion entrückt. Ansonsten ist Reilly auch in dieser Rolle Richard Cragun ebenbürtig - mit explosiven, weiten Sprüngen, mit den weichen, weiblichen Bewegungen und so vielen Details im Spiel, die ihm nie jemand gezeigt hat, weil es sie bisher noch nicht gab. Für das, was der junge Kanadier mittlerweile ausstrahlt, reicht das Wort Faszination eigentlich nicht mehr aus; was nun aufblitzt, ist Größe.

Mit Anna Osadcenko war zum ersten Mal seit langer Zeit auch wieder ein Funkeln beim weiblichen Nachwuchs zu sehen - die Absolventin der Cranko-Schule machte den „Blauen Vogel“-Pas-de-deux zusammen mit Reilly zum Ereignis, sie glänzte in sämtlichen Feen- und Edelstein-Rollen und ganz besonders als neue Fliederfee. Falls es stimmt, dass sie zum Januar doch nach Berlin wechselt, dann kann sich Vladimir Malakhov freuen.

Ein weiteres erfreuliches Debüt: der Holländer Marijn Rademaker als Ali Baba. Und es gab noch viel mehr zu entdecken im bunten Gewusel der exquisit gekleideten Märchenfiguren - einen ganz entzückenden Kater zum Beispiel (Arman Zazyan), einen liebenswert blasierten Catalabutte (Alexander Makaschin), einen leicht überspannten Alexander Zaitsev, der als Ali Baba in den Froschkönig crashte, und eine moralisch recht freizügige Königin mit Tattoo im Dekolleté. Weitere Vorstellungen und Überraschungen dann an Weihnachten.
 

Link: www.stuttgart-ballet.de

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