Das gewisse Etwas

Crankos „Zähmung“ in weiteren Besetzungen

Stuttgart, 02/07/2004

Das ist eigentlich der Idealfall: wenn bei der Neueinstudierung eines Klassikers nicht nur die einzelnen Schritte oder Pantomimen vermittelt werden, sondern die Figuren als Ganzes, ihre Charaktere und ihre Geschichte. So geschehen ganz offensichtlich in der Stuttgarter „Zähmung“, wo auch in zweiter, dritter oder vierter Besetzung manche Rollen ganz anders gespielt werden. Zum Beispiel von Eric Gauthier als eitlem Freier Hortensio, der neben dem gewissen Elvis-Hüftschwung auch einen herrlich gönnerhaften „Komm, Mädel, ich zeig Dir mal meine Gitarre“-Gesichtsausdruck drauf hat. Er ist entweder um den Sitz seiner Frisur, um seinen lädierten Kiefer oder seine wertvollen Musikerhände besorgt, am wenigsten aber um Bianca. Alexander Zaitsev wie auch Alexander Makaschin mischen als schusseliger Gremio die hohe Schule der russischen Charakter-Pantomime mit englischem Humor und übertreiben dabei nie.

Keine Ideallösung gibt es für Bianca und Lucentio, das lyrische Paar: wo Elena Tentschikowa und Nikolay Godunov wunderbar tanzen, aber nur das Nötigste an konventionellem Lächeln verschenken, da spielen Marijn Rademaker und Ivanna Illyenko ihre Rollen frisch und jung und sehr viel überzeugender, bei all den Holperern im Pas de deux. Das gleiche gilt für Katja Wünsche und Evan McKie, auch wenn der große Kanadier bei seinem Debüt etwas zu sehr um seine Technik und zu wenig um die Dame besorgt war. Illyenko wie Wünsche spielen Bianca als neugierigen Teenager, ein bisschen schnippisch, aber im Grunde lieb und spontan. Rademaker trifft den verliebten Studenten vielleicht am nettesten, weil er ihm nur eine winzige Note Eitelkeit zugesteht. Wer gerne Dreifach-Tours sieht (naja, sagen wir zweieinhalbfache), der kann sich eigentlich jede Besetzung in Stuttgart anschauen.

Rein technisch schenken sich die drei Petruchios kaum etwas (das vierte Paar, Roberta Fernandes und Jiri Jelinek, fiel vorerst wegen Krankheit aus). Filip Barankiewicz und Jason Reilly springen höher, dafür dreht Ivan Gil Ortega ein bisschen eleganter. Aber womöglich sind es genau diese enormen Sätze, die ihm fehlen, sein Petruchio wirkt bei allem lockeren Witz und bei aller Intelligenz ein wenig unspektakulär, außerdem hat er Probleme im Schluss-Pas-de-deux. Julia Krämer erzählt die Geschichte einer Befreiung und zeigt die Entwicklung Katharinas als ein Aufblühen, sie spielt vor allem die Verwandlung von Kratzbürste zu liebender Frau sehr schön. Aber das scheint fast schon ein bisschen zu ernst für dieses komische Ballett. Während man sich bei ihr nachdenklich fragt, warum diese Katharina wohl so biestig geworden ist, warum sie Petruchio erst so spät ein Lächeln schenkt, da hat die temperamentvolle Maria Eichwald einfach Spaß am Streiten, wie eine spielende Katze. Die nötige Technik ist bei ihr (wie bei Krämer) keine Frage – wie mit Messern zielt sie in der ersten Szene mit ihren Beinen auf die Nachbarn, ihre Grand Jetés blitzen wütend auf und selbst die Komik sieht bei ihr noch hochmusikalisch aus. Auch Jason Reilly kann alles, was ein Petruchio können muss – die hohen, wirklich spektakulären Sprünge und die schwierigen Hebungen erledigt er mit einer sorglosen, unbekümmerten Freude, die ihn schon rein tänzerisch zum legitimen Nachfolger Richard Craguns macht. Er ist komisch, und zwar nicht auf eine einstudierte oder nachgespielte Weise, sondern spontan und aus dem Moment heraus. Bei all den Clownereien zwischen Macho, Draufgänger und Spaßvogel bringt Reilly aber auch noch jene gestandene Männlichkeit mit, die nur noch so wenige Tänzer haben – ob man es nun Bühnenpräsenz, natürlichen Charme oder Star Quality nennen möchte, sein Petruchio hat einfach dieses gewisse Etwas.

Vielleicht wirkt das Debüt dieses Paares auch deshalb so sensationell, weil Eichwald und Reilly die Urbesetzung Haydée/Cragun niemals live auf der Bühne erlebt haben, vielleicht frappiert einen deshalb so sehr, wie originell, detailliert und frei sie ihre Rollen vom ersten Moment an spielen. Im turbulenten ersten Pas de deux sieht man in Katharinas Gesicht jedes Staunen und Hingerissensein, jeden Zweifel an diesem neuen Gefühl und die vergebliche Gegenwehr gegen Petruchios Charme, der nur am Anfang gespielt ist. Denn obwohl er sie zunächst aus purer Kalkulation in sich verliebt macht, wird auch bei ihm ziemlich schnell mehr daraus – statt dem üblichen Verabschiedungsbrimborium oben auf der Empore wirft Reilly seiner Katharina einen langen, versonnenen Abschiedsblick zu, das hat selbst Cragun nicht gemacht. Man sieht genau, an welchem Punkt die Romantik einsetzt und wie sie sich bis hin zum gloriosen Schluss-Pas-de-deux immer weiter steigert. So wie Katharina ihren Petruchio hier hingerissen anstrahlt, ist das schon lange keine Zähmungsgeschichte mehr, sondern eine Liebesgeschichte. Viel stärker als die anderen, nun wahrlich nicht schlechten Besetzungen ergänzen sich Eichwald und Reilly als Paar, wahrscheinlich liegt darin die ganz besondere Qualität dieser Aufführung. Wenn die hartgesottenen, abgebrühten Langzeit-Ballettgänger durchs Foyer steppen und verklärten Auges „wie früher“ hauchen, dann muss etwas passiert sein. Stuttgart hat wieder ein Traumpaar.

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