CRANKO - ab heute im Kino
Stuttgarter Stolz und Welt-Kulturgeschichte
Es kommt nur sehr selten vor, dass eine große Persönlichkeit aus der Welt des Tanzes im Mittelpunkt eines Spielfilms steht – Dokumentarfilme gibt es einige. „The White Crow“ („Der weiße Rabe“) unter der Regie von Ralph Fiennes erzählte 2018 den Karrierebeginn und die Flucht von Rudolf Nurejew, gespielt von Oleg Ivenko, auch die frühere Hamburger Erste Solistin Anna Polikarpova hatte darin eine Rolle; 1979 schon entstand „Nijinsky“ unter der Regie von Herbert Ross mit Alan Bates als Diaghilew und George de la Pena als Nijinsky, für die Tanzszenen wurde Colin Blakely engagiert. Er beschreibt 20 Monate aus dem Leben des Ausnahmetänzers der „Ballets Russes“.
Jetzt also ein Film über John Cranko, den Vater des „Stuttgarter Ballettwunders“, das 1962 mit der Premiere seiner Fassung von „Romeo und Julia“ seinen Anfang nahm, 1965 folgte sein bis heute maßstabsetzender „Onegin“. Der internationale Durchbruch kam 1969 bei einem Gastspiel an der New Yorker Met. Clive Barnes, seinerzeit der wichtigste Ballettkritiker der USA, schwelgte in den höchsten Tönen von dieser Kompanie aus der deutschen Provinz. Dass das damals noch kleine Ensemble überhaupt an die Met, das größte Opernhaus der Welt, eingeladen wurde, grenzte schon für sich an ein Wunder. Stuttgart, die Hauptstadt Baden-Württembergs, war bis dahin eher bekannt für den Fernsehturm, Spätzle und das Mercedes-Werk. Aus dem eher provinziellen Ensemble, der Oper untergeordnet wie damals üblich, wurde über Nacht eine weltweit renommierte Kompanie. Das ist zweifellos das Verdienst John Crankos, und so scheint es nur logisch, ihm endlich einen großen Film zu widmen.
Die Geburt der eigenen Sparte in der Theaterhierarchie
Cranko ist zu verdanken, dass das Ballett heute in Deutschland eine eigene Sparte ist, mancherorts mit eigener Intendanz und damit gleichberechtigt neben der Oper und dem Orchester. Cranko brachte große Handlungsballette auf die Bühne, wie man sie vorher noch nie gesehen hatte. Er war ein Geschichtenerzähler, ein Magier, der den Menschen und die Menschlichkeit in den Mittelpunkt stellte.
Crankos befreite das Ballett in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg aus seinem engen klassischen Korsett. Er zeigte Gefühle im Tanz, das, was mit Worten kaum zu sagen ist. Er zeigte Menschen in ihrem Schmerz, ihrer Verzweiflung und Trauer ebenso wie das Glück, die Liebe, die Hingabe und die Erotik. Ungeschminkt. Echt. Expressiv.
Cranko forderte, dass die Tänzer*innen sich auf der Bühne zeigen, wie sie sind, in ihrer einzigartigen Individualität. Dass sie nicht mimen, so tun, als ob, sondern dass sie den Charakter, den sie darstellen, wirklich sind, dass sie ihn spüren und seelisch erfüllen – aus ihrem Innersten heraus. Er verlangte seinen Tänzer*innen eine kompromisslose Authentizität ab. Und er hatte das Glück, dass diese ihm bedingungslos folgten, dass sie sich ganz und gar hingaben. Das war revolutionär in dieser Zeit, vollkommen neu im Ballett des Nachkriegsdeutschlands.
Damit legte Cranko den Grundstein für alles, was sich in den nachfolgenden Jahrzehnten an choreografischen Meisterwerken entwickelte. So gut wie alle namhaften Choreografen wurden in dieser Stuttgarter Wiege geboren, auch noch viele Jahre nach Crankos Tod: William Forsythe, Jiri Kylian, John Neumeier, Uwe Scholz, Christian Spuck, Demis Volpi, Marco Goecke und Bridget Breiner, um nur einige zu nennen. Sie alle und noch unzählige mehr stehen auf seinen Schultern. Was sie heute kreieren, wäre ohne die Arbeit John Crankos nicht denkbar und auch nicht möglich.
Anspruchsvolle Konzeption
Vermittelt dieser Film diese besondere Bedeutung Crankos? Macht er verständlich, welche Persönlichkeit Cranko war, was ihn ausgemacht hat, wie er arbeitete, was ihn antrieb? Ja und nein. Vieles von dem oben Angesprochenen kann man den Bildern entnehmen. Und doch wirkt vieles gekünstelt, unecht. Und damit weniger glaubwürdig. Wer nicht schon einiges über Cranko weiß – aus eigener Anschauung in den 1960er und 70er Jahren und später unter der Direktion von Marcia Haydée, die Cranko eine würdige Nachfolgerin war zwischen 1976 und 1996 –, der wird nur aus diesem Film heraus kaum verstehen, warum Cranko für den Tanz heute so wichtig war.
Das liegt in erster Linie an der Konzeption, wie dieser Film aufgebaut ist. Er ist kein Biopic, aber auch nicht wirklich ein Spielfilm, er ist nicht Fisch und nicht Fleisch. Vielleicht liegt das daran, dass Regisseur und Drehbuchautor Joachim A. Lang zu viel will. Er zeigt einen Mann um die 40, der in London als Schwuler aufgeflogen ist und damit – der Moral der Zeit entsprechend mit ihrem berüchtigten § 175, der Homosexualität unter Strafe stellte – ein Aussätziger war, ein Outcast. Crankos Karriere als Choreograf des Royal Ballet war damit schlagartig zu Ende. Der Ruf nach Stuttgart war seine Zuflucht, seine unerwartete Rettung.
Joachim Lang zeigt die Zerrissenheit dieses Mannes, seine Depressionen, seine Einsamkeit, seine Suche nach Liebe und Geborgenheit, seine Leidenschaft für den Tanz. Was er dabei leider nicht vermeidet, ist der „haut goût“ des Voyeurs, der in Crankos Intimleben stöbert. Was seine Kunst ausgemacht hat, warum er so wichtig wurde für das Ballett heute, das zeigt dieser Film im Vergleich dazu nicht wirklich. Man kann es, wenn man sich wohlwollend bemüht und das Stuttgarter Ballett in seiner Entwicklung kennt, ein bisschen herauslesen. Ein junger Mensch jedoch, der nicht über dieses Hintergrundwissen verfügt, dürfte sich schwertun, aus diesem Film heraus zu erfassen, was und wer John Cranko als Künstler wirklich war. Er versteht nur: Er war ein einsamer, kettenrauchender, schwuler, alkohol- und tablettensüchtiger Mann, der bedeutsame Ballette geschaffen hat.
Schwierige Besetzung
Sam Riley als John Cranko ist zweifellos ein exzellenter Schauspieler, aber er zeigt in dieser Produktion nicht den bezwingenden Charme, den Cranko ausstrahlte und der jeden in den Bann schlug, der das Glück hatte, ihm zu begegnen (vielleicht hat man Riley auch nicht erlaubt, so zu strahlen). Die ehrlichen, harten Worte, mit denen Cranko seine Tänzer*innen verschiedentlich konfrontierte (z.B. Birgit Keil, Heinz Clauss und auch Marcia Haydée), um sie letztlich noch besser zu machen, bleiben teilweise nicht nachvollziehbar und deshalb befremdlich.
Wenn Lang immer wieder Tanzsequenzen aus Cranko-Balletten in Rileys aufgezoomte Iris hineinprojiziert, wirkt das eher künstlich als künstlerisch. Das gilt auch für diverse Tanzsequenzen im Freien, die Lang auf dem Waschbeton vor dem Großen Haus der Württembergischen Staatstheater am „Eckensee“ ansiedelt oder am Schloss Solitude, wo Cranko in den letzten Lebensjahren in einem der Kavaliershäuschen gewohnt hat.
Die Hauptrollen der Tänzer*innen hat Lang mit Solist*innen des Stuttgarter Balletts von heute besetzt: Elisa Badenes als Marcia Haydée, Rocio Aleman als Birgit Keil, Jason Reilly als Ray Barra, Friedemann Vogel als Heinz Clauss, Martí Paixà als Richard Cragun, Henrik Erikson als Egon Madsen. Das ist ein ungewöhnliches Wagnis – nicht alle Tänzer*innen sind auch Schauspieler*innen. Und so wirken die Szenen und Dialoge (die überdies an nicht wenigen Stellen an den Roman „SeelenTanz“ von Thomas Aders erinnern, siehe tanznetz vom 14. Juni 2020) nicht selten etwas auswendig gelernt, gestelzt. Glaubwürdig sind die Darsteller*innen dagegen, wenn sie tanzen – dann sind sie echt, in ihrem Element.
„Es war mein Ziel, mit ‚John Cranko‘ den ersten wirklichen Ballettfilm zu machen, einen Film, der dem Zuschauer diese Kunst in ihrer ganzen Tiefe und Emotionalität nahebringt, der uns mit einem der besten Choreografen auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle nimmt, ein Film, der tiefer in die Wirklichkeit blicken lässt, als es eine einfache Abbildung kann“, schreibt Joachim A. Lang im Presseheft zum Film. „Es ist ein Versuch, mit der Darstellung des Lebens und Werks dieses Genies die Seele des Tanzes zu erfassen.“ Und Sandra Maria Dujmovic, Co-Produzentin und Dramaturgin beim SWR, ergänzt: „Unser Film ist keine Biografie. Dieser Ansatz hätte uns nicht interessiert. Unser Film bietet mehr. Wir versuchen, die Seele dieses Genies zu erfassen, seine Visionen, seine künstlerische DNA.“
Diesem hohen Anspruch wird der Film, der ab 3. Oktober in die Kinos kommt, nicht wirklich gerecht. Umso mehr wünscht man sich nun, dass endlich all die vielen Aufzeichnungen digitalisiert werden, die in den Schränken der Erben Crankos lagern und die sonst irgendwann zu Staub zerfallen werden. Wenn man daraus und aus dem umfangreichen Archiv-Material des SWR aus dieser Zeit zwischen 1962 und 1973 eine kommentierte Dokumentation machen würde, könnte man komplementär zum Spielfilm authentisch vermitteln, worin Crankos Magie bestand und vor allem die seiner großen Solist*innen.
Folgender Artikel bezieht sich u.a. auf unsere Rezension von Annette Bopp:
https://www.kontextwochenzeitung.de/kultur/707/wer-hats-erfunden-9787.html
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