Zu viel gewollt?
Der Spielfilm „Cranko“ von Joachim A. Lang
In England, wo der gebürtige Südamerikaner John Cranko eine durchaus erfolgreiche Choreografen-Karriere begann, wurde er nach Bekanntwerden seiner Homosexualität künstlerisch kaltgestellt. Der Rest ist Stuttgarter Stolz und Welt-Kulturgeschichte: Der unangepasste Künstler kam, sah und siegte ausgerechnet im als bieder verschrieenen Schwabenländle, wo ihm schnell die Leitung der Kompagnie angeboten wurde (1961 bis 1973). Künstlern billigte man wohl zu einer Zeit, in der Homosexualität offiziell noch unter Strafe stand (bis 1994!) offenbar andere Freiräume zu als dem Rest der bürgerlichen Welt.
Lang zeichnet – gestützt auf zahlreiche Gespräche mit Zeitzeugen, den ehemaligen Tänzer*innen persönlichen und künstlerischen Weggefährten Crankos – den Künstler als wurzellos Getriebenen, dessen übergroße Suche nach Liebe und Anerkennung nicht nur Motor seines Schaffensrausches war, sondern ihn zugleich in einen Strudel von Obsession – Sex, Kettenrauchen, Alkohol und Tabletten – trieb. Zum Ausgleich schuf er Choreografien, denen das Stuttgarter Ballett bis heute seine hohen Besucherzahlen verdankt...
Gut gelingt das tiefe Eintauchen in den schöpferischen Prozess am Beispiel zweier großen, längst zur Ballett-Weltliteratur zählenden Handlungsballette: „Onegin“ und vor allem „Romeo und Julia“ (nach weit über 500 Aufführungen auch in dieser Spielzeit auf dem Spielplan des Stuttgarter Balletts). Gezeigt werden auch Ausschnitte aus Crankos letztem, ziemlich untypischem Ballett „Spuren“, in dem es um Traumata aus der NS-Zeit geht; immerhin ein Hinweis darauf, dass sich der Künstler nie auf den genialen Übersetzer tiefer Gefühle in schöne Tanzszenen reduzieren lassen wollte. Aber Weiterentwicklung war ihm nicht mehr vergönnt; seinen Versuch, das Leben in allen Höhen und Tiefen im Zeitraffer zu durchjagen, bezahlte er 1973 auf dem Rückflug von einer USA-Gastspielreise mit dem Leben – erst 45 Jahre alt.
Der britische Schauspieler Sam Riley schafft es, die inneren Dämonen der Hauptfigur überzeugend lebendig werden zu lassen. Ihm zur Seite agiert Kammertänzerin Elisa Badenes erstaunlich souverän in der ungewohnten Doppelrolle von Schauspielerin und Tänzerin als Besetzung von Crankos legendärer künstlerischer Muse Marcia Haydée. Überhaupt geht das Konzept, die aktuellen Stuttgarter Tänzer*innen in die Rolle ihrer berühmten Vorgänger schlüpfen zu lassen, gut auf...
In Anwesenheit der jungen Tanzstars und vieler ehemaligen Weggefährten Crankos war die Stuttgarter Filmpremiere ein rauschender Erfolg. Für Ballettfans ist dieser Film natürlich ein Muss. In den Kinosälen landauf, landab könnte sich der Versuch eines Einblicks in das Wesen des Balletts als Nischenthema erweisen - der Kinostart wird’s zeigen.
Anm: Ausschnitt aus einer längeren Rezension
Die gewünschte Dokumentation gibt es bereits: Marcia Haydee, Birgit Keil und Egon Madsen kommentieren die Fernsehberichte der Cranko Ära (ca. 90min.)."Wiedersehen mit einem Wunder". Zu finden in der ARD-Mediathek (am besten "googeln", da die interne Suchfunktion der Mediathek den Beitrag nervigerweise nicht findet).
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