„Der Widerspenstigen Zähmung“

oe
Stuttgart, 19/06/2004

So wenig ich mir vorstellen kann, dass in diesen Tagen in den Fußballstadien über Ballett diskutiert wird, so erstaunt registriere ich, wie das derzeit die Nachrichten beherrschende Interesse am Geschehen im fernen Portugal an diesem Wochenende die Ballettfans in Hamburg und in Stuttgart offenbar überhaupt nicht tangiert. Sie stürmen jedenfalls die Vorstellungen, am Freitag an der Elbe und am Samstag am Neckar – und diskutieren in den Pausen über die Besetzungen der jeweiligen Vorstellungen von „Dornröschen“ und „Der Widerspenstigen Zähmung“ – und nirgends schnappe ich ein paar Gesprächsfetzen auf, in denen es um die gleichzeitig stattfindenden Ausscheidungen in der Fußball-Vorrunde geht. Das erstaunt in Stuttgart freilich noch mehr als in Hamburg, denn zeitgleich mit Stuttgart spielt in Porto die deutsche Nationalmannschaft gegen Lettland – eine nationale Schicksalsstunde, wird mir hinterher bewusst, wenn ich, wieder zu Hause, den Fernseher einschalte.

Der Vergleich hinkt zwar in fast jeder Beziehung, gleichwohl bin ich versucht, mir vorzustellen, dass in diesen Tagen die Europa-Meisterschaft der Ballettkompanien ausgetragen wird, und dass in diesen 24 Stunden Hamburg und Stuttgart in der Vorrunde gegeneinander angetreten sind – die User, wie die heute so schön heißen, des koeglerjournals wissen ja inzwischen, dass ich eine lebhafte Fantasie habe. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: es stand am Ende der Vorstellungen Null zu Null – und spiegelt insofern durchaus getreulich die Befindlichkeit der beiden Städte dar. Mit dem Unterschied freilich, dass sich die Letten als Novizen auf der Welttribüne des Fußballs nach diesem Ergebnis eindeutig als Sieger fühlten, während die konkurrierenden Tänzer beide als strahlende Sieger nach den Vorstellungen gefeiert wurden (durchaus verdient, wie ich meine).

Tatsächlich ist es ja so, dass beide, Hamburg und Stuttgart, heute auf gleichem Niveau tanzen – mit allerdings gründlich unterschiedenem Temperament. Die Stuttgarter mit furiosem dramatischen Elan (an diesem Abend sozusagen mit dem als Petrucchio debütierenden Jason Reilly als Michael Ballack des deutschen Balletts) und die Hamburger mit ausgepichter Raffinesse (da würde ich den sehr heutigen Prinzen von Alexandre Riabko eher mit dem eleganten Zinedine Zidane vergleichen). Seien wir doch froh, dass wir heute über zwei Ballettkompanien von dieser Qualität verfügen (und sogar noch über zwei oder drei weitere, die in dieser Liga mittanzen)! Doch lassen wir es nun mit dem Vergleich sein Bewenden haben. Über Hamburg war ja schon gestern die Rede. Nun also Stuttgart!

Immer wieder, und so auch diesmal, diese das Haus durchpulsende elektrisierende Vorfreude auf die Vorstellung. Diesmal allerdings noch mit erhöhtem Blutdruck: denn angekündigt war das lokale Debüt eines in diesem Ballett neuen Protagonistenpaares: Maria Eichwald und Jason Reilly (vorausgegangen war für die beiden der Try-Out in Ludwigshafen). Die beiden sind ein geradezu ideales Kontrastpaar mit ausgesprochen komplementären Eigenschaften. Sie geradezu zierlich, aber ganz und gar nicht von der porzellanenen Art, sondern mit der stürmischen Kratzbürstigkeit einer Anna Magnani, die doch immer wieder momentweise die himmlische Wonnen verheißende Zärtlichkeit einer ganz der Liebe hingegebenen Frau aufblitzen lässt (um im nächsten Augenblick wieder wie eine Megäre loszulegen – insofern würde ich nach dem berühmten finalen Nasenstupser meine Hand für ein Ever-After-Happy-End nicht ins Feuer legen). Und er mit dem bravourösen, buchstäblich in die Luft katapultierten Machismo des geborenen Womanizers, ganz verführerisch lächelnd – und eben darum mit nicht recht zu trauendem Charme und Charisma – und, nicht zu vergessender, Chutzpe.

Und was für eine Equipe süperber Tänzerdarsteller um die beiden – jede und jeder die von Cranko skizzierten farcenhaften Rollenprofile mit saft- und kraftvollem Blut erfüllend. Die beiden so ganz und gar lyrisch sich verströmenden Ivanna Illyenko und Marijn Rademaker als Bianca und Lucentio, dazu Alexander Zaitsev als tollpatschig fistulierender Gremio und Eric Gauthier mit seiner sich selbst auf die Schippe nehmenden augenzwinkernden Blasiertheit als Hortensio, die beiden leichten Damen von Emma Pearson und Sarah Grether, die ohne weiteres in jeder Lilo Wanders-Show auftreten könnten, und all die anderen, mit dem piekfeine Stuttgarter Klassik repräsentierenden Sextett um Katja Wünsche und Dimitri Magitov. Welch ein Feuerwerk schier überbordender komödiantischer Tanzlust! Einer jener Abende, da das Publikum in einer Hier-bin-ich-was-kostet-die-Welt-Stimmung das Theater verlässt!

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