Das Stuttgarter Ballettwunder

Heute wäre der große Ballettdirektor und Choreograf John Cranko 80 Jahre alt geworden

Stuttgart, 15/08/2007

Wie sähe das Stuttgarter Ballett heute aus, wäre er so alt geworden wie sein Altersgenosse Maurice Béjart oder wie der große Marius Petipa? Wäre er noch immer hier oder hätte es ihn in eine der großen Weltstädte gezogen? Gäbe es jetzt zehn oder zwanzig großartige Handlungsballette statt der drei, auf die sein Weltruhm gründet? Wäre er irgendwann von der Klassik abgekommen, um einen neuen choreografischen Stil zu suchen, hätte er seine klare Erzählweise den Collagen des Tanztheaters angenähert, vielleicht weiter im Stil seines modernen Stückes „Présence“ gearbeitet?

Irgendwie ist John Cranko immer noch in Stuttgart, obwohl seit seinem Tod 34 Jahre vergangen sind - fast dreimal so viel Zeit, wie die zwölf Jahre, die er als Ballettdirektor am Staatstheater gearbeitet hat. Cranko legte den Keim einer Tanzbegeisterung in diese Stadt, die (anders als im 18. Jahrhundert beim kurzen Gastspiel Jean Georges Noverres) seitdem nie wieder verschwunden ist, er etablierte eine Ballettkultur, die so fest in der Kompanie und in ihrem Publikum verankert ist, dass sie bei allen zeitweiligen Schwankungen unzerstörbar scheint. Es ist nicht nur Bewunderung, es ist noch heute Liebe, die aus den Worten Marcia Haydées oder Reid Andersons klingt, wenn sie von ihrem Vorgänger und Freund sprechen. Man wünscht sich wirklich, man hätte ihn gekannt, diesen zerrissenen und oft unglücklichen, aber für all seine Zeitgenossen so unendlich wertvollen Menschen.

Mit dem Ballett kam der am 15. August 1927 geborene Südafrikaner John Cyril Cranko durch seine Eltern in Berührung, bereits mit 18 Jahren verließ er Kapstadt und ging nach London, wo er im Umkreis des Sadler’s Wells Ballet, des späteren Royal Ballet arbeitete (genauer gesagt, beim Sadler’s Wells Theatre Ballet, der etwas moderner orientierten Absplitterung der nach Covent Garden umgezogenen Haupttruppe, wo auch Kenneth MacMillan tanzte und choreografierte). Neben zahlreichen kurzen, oft gewagten oder auch witzigen Balletten inszenierte Cranko in England Opern, zwei Revuen („Cranks“) und ein Musical. 1957 gab das Royal Ballet die Uraufführung des Balletts „The Prince of the Pagodas“ bei ihm in Auftrag, das mit Benjamin Brittens etwas sperriger Partitur zwar keinen überwältigenden Erfolg hatte, ihn aber mit Stuttgart bekannt machte, wo er das Stück drei Jahre später einstudierte. Der damalige Generalintendant Walter Erich Schäfer erkannte Crankos Genie und bot ihm umgehend die Leitung der Kompanie an, ja er verabschiedete den durchaus verdienstvollen Vorgänger Nicholas Beriozoff sogar mitten in der Spielzeit.

Im Januar 1961 trat Cranko seinen Dienst in Stuttgart an und ließ London hinter sich, wo er private Probleme hatte und neben dem berühmten Kollegen Frederick Ashton ohnehin geringe Chancen für sich erkannte. Er wollte im weniger balletterfahrenen Deutschland etwas Neues aufbauen, sprach später aber auch von einer gewissen Resignation in dieser Zeit seines Lebens. Sein Wirken in Stuttgart ist bekannt - 1962 legte er mit „Romeo und Julia“ den Grundstein für weitere große Erfolge, er scharte junge Tänzer wie Marcia Haydée, Birgit Keil, Egon Madsen, Richard Cragun, Heinz Clauss um sich, schuf große Rollen für den bereits in Stuttgart engagierten Ray Barra. Cranko holte moderne Choreografen wie Glen Tetley und Kenneth MacMillan nach Stuttgart und förderte zusammen mit der Noverre-Gesellschaft die unbekannten Nachwuchstalente, er erweiterte außerdem die Ballettschule der Württembergischen Staatstheater, die nach seinem Tod dann in John-Cranko-Schule umbenannt wurde.

Beim ersten Gastspiel der Kompanie in New York entstand 1969 das Schlagwort vom „Stuttgarter Ballettwunder“, die Truppe war fortan weltberühmt und wurde in den nächsten Jahren immer wieder als das deutsche Nationalballett bezeichnet; noch der aktuelle Oxford Dictionary of Dance schreibt beim Stichwort „Stuttgart Ballet“: „Germany’s leading classical ballet company“, was man in Hamburg, München, Berlin sicher bestreiten wird. John Cranko starb am 26. Juni 1973 im Flugzeug über dem Atlantik, beim Rückflug von der dritten umjubelten Amerika-Tournee seiner Kompanie; er hatte eine Schlaftablette genommen und war an Erbrochenem erstickt. Begraben liegt er auf den Hügeln über Stuttgart, auf dem kleinen Friedhof bei Schloss Solitude, wo er zuletzt in einem der Kavaliershäuschen gewohnt hatte. Für Stuttgart, für die Tänzer und das Publikum war sein Tod ein absoluter Schock, viele zweifelten danach am Fortbestand des immer noch jungen Stuttgarter Balletts. Sofort bemühten sich andere Kompanien um die berühmten Tänzerstars, aber sie blieben ausnahmslos alle da und arbeiteten in seinem Geiste, in der Erinnerung an ihn weiter. Noch heute sagt Reid Anderson: „Das ist Johns Kompanie“.

Anders als sein berühmter Vorgänger Jean Georges Noverre war der Choreograf Cranko kein Revolutionär oder Reformer, sein Vokabular beruht fest auf der Klassik der danse d‘école. Aber er ist der eigentliche Begründer des dramatischen Tanzes (nicht des Tanztheaters wohlgemerkt, das ebenfalls in den 60er Jahren entstand), er vollendete die Kunst des Erzählens durch Bewegungen. Zusammen mit seinem Zeitgenossen Kenneth MacMillan läutete Cranko eine Renaissance des klassischen Handlungsballettes ein, sozusagen die europäische Gegenbewegung gegen Balanchines abstrakte Neoklassik. Cranko war dabei der genialere Dramatiker, seine Ballette sind klarer, wahrhaftiger und vor allem musikalischer - man muss nur Crankos und MacMillans Versionen von „Romeo und Julia“ vergleichen. In „Der Widerspenstigen Zähmung“, die so oft als leichtgewichtig abgetan wird, führt er die hohe Kunst der Charakterisierung vor, macht subtilste Entwicklungen der Figuren sichtbar. Sein Meisterwerk aber an psychologischer Einfühlung, an dramaturgischer Stringenz und seelenentblößenden Pas de deux ist „Onegin“. Trotz seiner historisch wichtigen „Schwanensee“-Version (die u.a. Rudolf Nurejew beeinflusste), trotz anderer wichtiger Stücke wie „Opus 1“, „Poème de l’extase“ oder „Initialen R.B.M.E.“ sind es diese drei großen Handlungsballette, die ins weltweite Repertoire eingingen und Cranko zu einem der wichtigsten Tanzschöpfer des 20. Jahrhunderts machten.

Wie alle berühmten Choreografen wirkt er in seinen Werken weiter, mehr noch als andere große Tanzschöpfer aber in der von ihm geformten Kompanie, dem Stuttgarter Ballett - in den jungen Tänzern, die wegen seiner Stücke nach Stuttgart drängen, in all den Choreografen, Ballettdirektoren und Ballettmeistern, die Stuttgart weiterhin in die Welt hinausschickt, in dem tanzbegeisterten und liebend-kritischen Publikum, das sich auf jeden neuen Romeo, jede neue Tatjana freut. John Cranko lebt. Link: Eine Biografie John Crankos gibt es bei der Stuttgarter John-Cranko-Gesellschaft: www.johncrankogesellschaft.de

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