Von den Beinen gerissen

Zahlreiche Rollendebüts in „Romeo und Julia“

Stuttgart, 23/04/2011

Bekanntlich meinen es die Sterne nicht gut mit dem berühmtesten Liebespaar der Weltliteratur. Neu ist, dass sie deshalb die „Romeo und Julia“-Aufführungen beim Stuttgarter Ballett unter Beschuss nehmen. Eine kaputte Harfe war noch das kleinste Problem – bei einer Aufführung geriet die Bahre in Schieflage, mit der Julia ins Grab abgesenkt wird, und die Scheintote fiel unsanft in ihre Gruft, am nächsten Abend stürzte ein Ballettfan beim Blumenwerfen in den Orchestergraben. Alle leben noch, und weit spannender als die Unglücksfälle war zum Glück eine Aufführung, nach der das Stuttgarter Ballett zwei neue Erste Solisten und wieder einmal schönste Zukunftsperspektiven hat. Jetzt, wo manche seiner langjährigen Starsolisten langsam älter werden und ihr Karriereende in Sichtweite kommt (zum Glück noch ganz entfernt), da vollzieht Ballettintendant Reid Anderson sacht einen Generationswechsel, baut sorgfältig und beständig junge Tänzer aus dem Corps de ballet zu Solisten auf, was seinen Kollegen beim Hamburger oder Münchner Ballett lange nicht in diesem Ausmaß glückt.

Zwei neue Liebespaare debütierten nun in John Crankos Dauerbrenner (neulich wurde die 600. Aufführung gefeiert), auch viele kleinere Rollen waren neu besetzt. Anna Osadcenko war bisher eher in Klassikern oder modernen Werken eingesetzt, weniger in den dramatischen Rollen; das mag an ihren idealen Ballerinenbeinen mit dem hohen Spann liegen, die optische Veredelung ihrer klassischen Linie. Sie überrascht mit einem in sich ruhenden, innig empfundenen Porträt, geprägt von feiner russischer Zurückhaltung, aber beseelt von einem inneren Strahlen und mit schönem Port de bras. Noch steht bei ihrem Romeo, dem Kanadier Evan McKie, die tänzerische Eleganz vor dem Hineinwerfen in die Rolle, zu freigiebig verteilt er das verbindliche Ballettprinzen-Lächeln, tanzt ein bisschen zu sehr fürs Publikum und, wie schade für ihn, zu wenig für sich selbst. Beide verbindet eine respektvolle, freundliche Partnerschaft, was für einen sorgenfreien Ablauf der Pas de deux sorgt, dramatisch aber letztlich zu wenig bleibt. Alexander Jones dagegen reißt seine Julia von den Beinen und wirbelt sie zu den Sternen hinauf – der junge Brite atmet in Crankos weiten, expressiven Bewegungen und hat von Friedemann Vogels grandiosen Auftritten im Oktober gelernt, dass man an bestimmten Stellen das Klassisch-Gemessene einfach vergessen muss. Genau wie McKie dreht Jones spektakulärer als er springt, sein spontaner und offener Romeo hält von Anfang an nicht viel von der Familienfehde. Zusammen mit der Koreanerin Hyo-Jung Kang macht er den Konflikt völlig vergessen, so unschuldig und entrückt geht das junge Paar in seiner Liebe auf. Der tänzerischen Anmut nach nicht ganz so elegant wie Osadcenko, spielt die Koreanerin mädchenhafter und sehr nuancenreich; so entwickelt sie zum Beispiel ihr Solo beim Ball fast übermütig aus den ersten Blickwechseln mit Romeo, aus diesem neuen, überraschenden Glück.

Noch immer und immer aufs Neue fasziniert Crankos Charakterisierungskunst. Wo Tybalt (der bei aller Düsternis noch menschliche Petros Terteryan) hässlich stirbt und krampfhaft das Leben zu krallen versucht, da verabschiedet sich Mercutio leicht und lächelnd. Auch für diese Rolle gab es zwei neue Besetzungen: Brent Parolin unterlief den melancholischen Humor mit einem allzu neckischen Hüftschwung, war mehr Elfe als Spaßmacher. William Moore dagegen tanzte nicht nur hervorragend - schnell, leicht und mit hohen Sprüngen -, sondern er erfasste auf Anhieb die poetische Dimension, das Doppelbödige der Figur. Das sind genau die Tänzer, die Crankos Oeuvre braucht, und Reid Anderson findet sie immer wieder. Selbst Daniel Camargo, hochgelobtes Jungtalent und Tanzpreisträger, scheint zu aller virtuosen Technik auch das dramatische Gen in sich zu haben: Benvolio ist gewiss keine tragende Rolle, aber der junge Brasilianer spielt sie so natürlich und spontan, dass die Szenen mit den drei Freunden zu den spannendsten des Abends gehörten. Trotz all seiner Lorbeeren überrascht er ständig aufs Neue und ist das beste Plädoyer für die wichtige Rolle der John-Cranko-Schule, deren Leiter Tadeusz Matacz ihn vor einigen Jahren entdeckt und nach Stuttgart geholt hat. Direkt nach ihren Rollendebüts wurden Kang und Jones auf offener Bühne zu Ersten Solisten ernannt, Camargo zum Halbsolisten (mit Wirkung ab der kommenden Spielzeit).

Vor allem die zweite der beiden Neubesetzungen war bis in kleinste Details sauber einstudiert, da stimmten die Motivationen, die Beziehungen, die Blicke. Entgegen den Unkenrufen in manchen deutschen Blättern (die bei „Initialen R.B.M.E.“ derzeit sicher einige Berechtigung haben) werden Crankos Werke in Stuttgart den jungen Tänzern sehr sorgfältig vermittelt. In New York beklagt man sich über den Verfall des Balanchine-Stils, in England über mangelnde Ashton-Kenntnis, in St. Petersburg ignoriert eine Alina Somova ungestraft Petipas klare Ästhetik; ob in Stuttgart tatsächlich „ein Erbe verschleudert“ wird, kann sicher nur jemand beurteilen, der die Cranko-Tradition seit den Uraufführungen kennt. Natürlich gilt es, die hohe Kunst der Originalbesetzungen, den reinen Stil und die Dramatik der großen Ballett-Tragöden gegen die selbstbewusste Jugend zu verteidigen, mit dem höchstmöglichen Anspruch. Wenn er aber zu hoch wird, kann man wohl nur noch mit Jennifer Homans den Tod des Balletts ausrufen.

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