Menschliches, Allzumenschliches

Maria Eichwald debütiert in „Endstation Sehnsucht“

Stuttgart, 27/03/2004

Die wasserstoffblonde Perücke sieht ein bisschen zu sehr nach den zwanziger Jahren und nach Jean Harlow aus, aber sonst ist die kleine, zarte Maria Eichwald schon rein optisch eine ideale Besetzung der zerbrechlichen Südstaatenschönheit Blanche Du Bois. Die neue Erste Solistin hat die Figur und das Stück durch und durch verstanden, und zwar nicht nur auf der Ebene von John Neumeiers Ballett-Adaption und in den einzelnen Motivationen seiner Bewegungen, sondern vor allem auch auf der Ebene des Tennessee-Williams-Dramas. Aus diesem Verständnis für den großen Zusammenhang heraus nimmt sie sich mehr Freiheiten (und manchmal hat man den Eindruck: mehr Zeit) als Alessandra Ferri und Bridget Breiner, wodurch immer wieder kleine Details verändert erscheinen – ein längeres Kopfsenken, mehr Raum für eine bestimmte Geste, eine andere Phrasierung.

Die dunkle, wahnsinnige Seite bricht bei Eichwalds Blanche nicht plötzlich durch, sondern entwickelt sich langsam – wo Marcia Haydée im ersten Akt wie eine Art Jekyll und Hyde fast zweigeteilt war, wo sie wie eine Schizophrene von der entrückten Verschleierten in die laszive Nymphomanin umkippte und sich das Puzzle ihres Charakters erst im Lauf des Stücks zusammensetzte, da macht Eichwald jeden einzelnen Wandel nachvollziehbar, erklärt jede Annäherung an die drei wartenden Männer im Flamingo-Hotel. Suchend und zögerlich nähert sie sich ihnen zunächst, lässt am Schluss des ersten Akts ihre Flucht in die Arme der schmierigen Liebhaber als einzige mögliche Rettung vor dem Untergang erscheinen. Im New-Orleans-Akt, wo Blanche dann bereits Affektiertheit und Koketterie zu einem Schutz-Mechanismus entwickelt hat, mag einem bei Maria Eichwalds menschlicher, stets nach Erklärungen suchender Interpretation die Falschheit, der allzu schrille Ton fehlen; dafür zeichnet sie das zeitweilige Zerbrechen ihres Panzers in der Szene mit Mitch ergreifend, fast erschütternd nach. Sie spielt die Blanche nicht als große Tragödin, legt nicht so sehr Wert auf die großen Affekte der Rolle, sondern wirkt irdischer, menschlicher, aufrichtiger – weswegen man bei ihr das ganze Stück über sehr viel mehr Mitleid mit Blanche verspürt. Und höchste Bewunderung für dieses erstaunlich eigenständige Rollendebüt in einer derart komplexen Rolle.

Wo Maria Eichwald ihre Rolle mit Klugheit erarbeitet hat, da entwickelt Jason Reilly seinen Part eher auf der Bühne weiter, vor allem aus der Musik heraus. Bei all seiner spontanen, sinnlichen Körperlichkeit wirkt er jetzt, nachdem man den existenziell bösen Stanley Kowalski von Jiri Jelinek gesehen hat, fast schon unschuldig in seinem rein triebgesteuerten Verhalten. Er verteidigt seine Welt gegen die Störung durch Blanche mit dem natürlichen Instinkt eines wilden Tieres – brutal, aber kaum maliziös oder arglistig. Wie wichtig Schauspiel-Ballette wie dieses für die Tänzer sind, sieht man vielleicht am deutlichsten bei Mikhail Kaniskin als Allan, der sich von heute auf morgen zu einem Charakterdarsteller von größter Intensität entwickelt hat (schade, dass diese neu entdeckte Schauspielerqualität nicht ein bisschen mehr auf seinen Albrecht in „Giselle“ abgefärbt hat). In idealer Weise setzt er die Feinheit und Klarheit seiner russischen Technik zur Charakterisierung von Blanches Verlobtem ein, eines korrekten, feinen und zutiefst zerrissenen Menschen. Egal in welcher Besetzung, mit dieser Ausdruckskraft und in dieser Intensität ist „Endstation Sehnsucht“ Stuttgarter Ballett at its best.

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