Praller Bilderbogen mit Revolutionskolorit

Auf DVD: Alexei Ratmanskys „Flamme von Paris“ fürs Bolschoi- Ballett Moskau

Berlin, 22/03/2011

/img/redaktion/flammes.jpgWer das Ballett noch aus den 1960ern kennt, reibt sich nach dem Ansehen der DVD verblüfft die Augen: Galt damals „Die Flamme von Paris“ noch immer als Meilenstein des sozialistischen Realismus, so gibt sich die Wiederbelebung des Sowjetklassikers als äußerst attraktives Handlungsballett eher in der Nachfolge der großen Schöpfungen Petipas. Choreograf Alexei Ratmansky kommt das Verdienst zu, nach den Balletten von Schostakowitsch, „Der helle Bach“ und „Der Bolzen“, nun auch jenes 1932 bei der Uraufführung in Leningrad reich umjubelte Werk dem Vergessen entrissen zu haben. Tschabukiani, Balabina, Anissimowa, Ulanowa hatten das Libretto mit dem bewusst revolutionären Impetus zum Erfolg geführt, der die Gattung Ballett zur „fortschrittlichen“ Kunst erhob und ein halbes Jahr später die Übernahme ins Bolschoi Moskau nach sich zog. Mehr als drei Jahrzehnte blieb es goldener Bestandteil des Repertoires in den Ländern des Ostens, 1953 in deutscher Erstaufführung durch Lilo Gruber an der Leipziger Oper und dann nachgespielt in nahezu allen Ensembles, die es sich künstlerisch einigermaßen leisten konnten. Freilich hatte das von Wassili Wainonen hochgelobt choreografierte Stück ein klare Stoßrichtung: Stellvertretend feierte es den Sieg der Oktoberrevolution, die sich als proletarischer Vollender der grande révolution von 1789 verstand. Entsprechend pathetisch haben Wolkow und Dmitriew ihre literarische Vorlage verfasst.

Dass Ratmansky sich von all dem ideologischen Ballast befreien musste, liegt auf der Hand, auch von der damaligen Vorgabe, dem „alten“ Ballett durch Einvernahme „echt“ folkloristischer Tänze mehr Volksnähe zu verleihen. So straffte er die Handlung von vier auf zwei Akte mit je zwei Bildern und konzentrierte die Personage auf drei zentrale Figuren: Philippe, den Anführer der Truppen aus Marseille; seine Freundin, das Dorfmädchen Jeanne; deren Bruder Jérôme. In 47 Nummern, wie sie Boris Assafjew auch unter Verarbeitung von Themen Lullys und Grétrys mit eher traditionellen Mitteln komponierte, vollzieht sich der Sieg der Aufständischen über die französische Aristokratie. Die vertritt hier der Marquis, der Jeanne für sich beansprucht. Ihr Bruder vereitelt das, wird verhaftet, von Adeline, der hinzuerfundenen Tochter des Marquis, jedoch befreit. Sie ist das übergreifende Moment: Als Adlige von Geburt schließt sie sich aus Liebe zu Jérôme den Revolutionären an. Zuvor wohnt sie mit dem Vater im Palast des Königs einem Ballet de cour bei: die Geschichte von Armide und Renaud, wie man sie von Tassos „Befreitem Jerusalem“ kennt. Getanzt hier natürlich auf Spitze. Adeline kann zu den Aufrührern fliehen, sieht, wie Puppen des Königspaars vom Volk zerrissen werden, erlebt den Sturm auf die Tuilerien mit, dann die Siegesfeier „ihrer“ Leute. Als ihr Vater zur Guillotine geführt wird, stellt sie sich zu ihm, wird als „Verräterin“ selbst geköpft. Zum Ca ira der Revolution marschiert das Volk, hinweg über den verzweifelten Jérôme, malerisch dicht gedrängt und mit entschlossenen Augen auf den Zuschauer zu.

Es sind jene souverän entworfenen Bilder und der feurige Elan der Tänzer des Bolschoi Moskau, die Ratmanskys „Flamme von Paris“ ein langes Leben bescheren könnten. Der Geist der Veränderung durchweht es noch immer, diesmal wohl einer weiteren, der einer ambivalent zu sehenden Befreiung aus Sowjetfesseln, für die nun die grande révolution stehen mag. So ändern sich die Zeiten. Was sich nicht geändert hat, ist der höchst denkbare Standard, mit dem die Ballerinen und Ballerinos des Bolschoi tanzen. Sie schwingen reichlich Trikoloren, werfen die Kokarde hoch in die Luft, zeigen, ideologisch entbunden, französische Folklore à la Charaktertanz: Farandole, Carmagnole, Kolorit aus Marseille, der Auvergne, dem Baskenland. Vieles hat Ratmansky als Hommage von seinem Vorgänger Wainonen übernommen, so jenen Pas de deux von Philippe und Jeanne, der auch im Westen einzig überlebt hat. In Ivan Vasiliev und Natalia Osipova, den Stars der Truppe, hat er ideale Interpreten gefunden: kaum zu übertreffen ihr Feuerwerk an Tricks in atemberaubendem Tempo und mit traumwandlerischer Sicherheit. Denis Savin ist der kaum minder bravouröse Jérôme, Nina Kaptsova seine liebende Adeline. Dass es in der bösen Alten Jarcasse eine Verräterfigur wie aus Bournonvilles Zeiten braucht, ist schade, treibt den historisch getönten Stoff allzusehr ins Märchenhafte. Insgesamt ein prall gefüllter, bunt gewebter Gobelin voller Tanz, dem man gern zuschaut.

Alexei Ratmansky: „The Flames of Paris“, Ballet in two acts, Bolshoi Ballet and Bolshoi Theatre Orchestra, Moscow 2010, Bel Airs Classiques, 100 Minuten

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern