Symbiose aus Hören und Sehen
Daniel Goldin studiert „Brahms.Variationen“ neu ein
„Tanzt, Kinder, tanzt… sonst sind wir verloren“. Daniel Goldin hat sich Pina Bauschs leidenschaftlichen Appell zu Herzen genommen. Seine neue Choreografie „El galpón“ wirkt fast wie eine Hommage auf die Welttheater-Revuen seiner vor zwei Jahren verstorbenen Lehrmeisterin. Soviel getanzt wie diesmal wurde hier fast nie. So bunt, sexy und fröhlich geht es selten zu. Geheimnisvolle Szenen weisen dieses Tanztheater dennoch als echten Goldin aus. Das Premierenpublikum zeigte sich am Samstagabend im brechend vollen Kleinen Haus begeistert. Es applaudierte den neun Tänzern und dem Regieteam minutenlang.
Auf den Hinterhöfen von Buenos Aires, in Schuppen und Lagern (galpónes) entwickelte sich Ende des 20. Jahrhunderts eine Subkultur mit Galerien, Cafés und Theatern. Hier sei, sagt Goldin, auch heute noch das multikulturelle Flair der „Sainete criollo“ – satirischen Einaktern mit Musik und Tanz – zu spüren, die die Migranten des 19. Jahrhunderts entwickelten. Matthias Dietrich hat das Ambiente wieder vorzüglich eingefangen: an den schäbigen Blech- und Eternitwänden entlang stehen ausrangierte Zugabteil-Bänke, billige Holztische und Stühle. Rechts zwei Türen für „Herren“ und „Damen“, links ein finsterer Ausgang und eine Feuerleiter, hinten ein Schiebetor, davor eine halbhohe Mauer. Der Raffvorhang mit Schäfchenwolken-Himmel funktioniert nur noch halbwegs.
Die Musikcollage hat Goldin aus moderner südamerikanischer Kammermusik und Pop, aus traditionellen Gesängen, Bandoneon-Tangos und -Walzern zusammengestellt. Zwischendurch rattert ein Zug vorbei. Regen pocht auf das billige Dach des Galpón. Gaby Sogls Kostüme tragen mit schier unerschöpflichem Fantasiereichtum zum Effekt des Mosaiks aus bunten Tanzszenen bei. Ein Sportfreak mit Trillerpfeife, gepolstertem Körper und Torwarthandschuhen stürmt in den Raum (Ines Petretta) und tänzelt wild gestikulierend an der Rampe. Lautlos schiebt sich eine halbseidene Lady (Hsuan Cheng) herein: rote Locken, Sonnenbrille, knappes Top, schmale rote Hose, ultrahohen Stilettos mimt sie Femme fatale. Auf leisen Sohlen kommt ein Schlaks (Damiaan Veens) in Gabardinehose und Sommerhemd mit Bulldoggen-Maske vor dem Gesicht. Eine „Diva“ (Antonio Rusciano), Fuchsschwänze um die Schultern, gibt sich exaltiert. Ein Schönling (Matthias Schikora) mit schwarzem Hut und Anzug zu feuerrotem Hemd posiert wie ein Tango-trunkener Dressman auf dem Catwalk. Gespenstisch ist der Auftritt von Alice Cerrato im ärmellosen, langen Schwarzen. Sie zelebriert, immer wieder im Verlauf der Show, elegische Modern-Dance-Posen. Rusciano, nun Dekorateur, zerrt sie wie eine Schaufensterpuppe vom Tisch, zieht ihr das Kleid aus, trägt sie davon, um sie später mit weißer Robe oder mit High-Heels neu zur Schau zu stellen.
Auch wenn all die skurrilen Gestalten sich immer wieder zum Defilée oder Cluster vereinen, synchron und heiter mit den Händen wedeln, sich über die Köpfe streichen, die Hüften schwingen, zur Seite hüpfen und sich drehen: sie gehören nicht wirklich zusammen. Sie sind eine Völkermelange – zufällig zur selben Zeit am selben Ort, um ihren unterschiedlichen Befindlichkeiten und Stimmungen ungestört freien Lauf zu lassen. Wie schön!
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