Aus der eigenen Zeit neu gedacht
Schubert-Zenders „Winterreise“ in Münster
Daniel Goldins „Winterreise“ überzeugt auch bei der dritten Einstudierung
Auch sechs Jahre nach der Uraufführung, zum dritten Mal jetzt in Münster neu einstudiert, überzeugt und berührt Daniel Goldins Choreografie der „Winterreise“ auf Franz Schuberts letzte Lieder. Schwermut lastet über dem hellen Ambiente (Bühne: Matthias Dietrich) – Tschechow'sche Trauer und Sehnsucht. Birkenstämme recken sich schlank in den Schnürboden-Himmel. Eine gusseiserne, weiß lackierte Parkbank steht hinten rechts. Links davon ragt ein Stacheldrahtzaun harsch in die vermeintliche, lichte Idylle. Darüber biegt sich der Hals einer prosaischen Neonlampe, wie sie in Gefängnishöfen zur Überwachung installiert werden. Vorn tropft es stetig aus einer Regenrinne in eine Wanne. Durch zwei Türöffnungen fällt von draußen fahles Licht in den Innenhof. Die Wände sind weiß gekalkt. Aber die Farbe blättert ab; ein Freskorest kommt schemenhaft zum Vorschein. Wenige Requisiten trägt die achtköpfige, todernste Gruppe immer wieder herein: eine rote Ampel, Einbahnstraßen-Pfeil, Straußenei, Pflastersteine, einen leeren Vogelkäfig und einen Briefkasten, eine Rute aus kahlen Ästen und blühende Kirschzweige – Hinweise auf die Chiffren in diesem „Zyklus schauerlicher Lieder“.
Frauen in schlichten schwarzen Kleidern lehnen barfuß, kaum merklich schwankend, an den Bäumen. Ein Mann sitzt, in die Lektüre eines kleinen Buches vertieft, auf der Bank – der „einsame Wanderer“: Tsutomu Ozeki, markant und trostlos wie eine Barlach-Figur (vor allem später in „Der greise Kopf“). Er wird dem Wegweiser nachgehen müssen durch eine Straße, „die noch keiner ging zurück“. Seine letzte Hoffnung hat er auf den Totenacker getragen: das Straußenei, aus dem ein viel zu großer Vogel geschlüpft wäre für seinen zierlichen Käfig... Wie die verlorene Geliebte - in wundervollen Soli deutet Alice Cerrato das unbekümmerte Mädchen an (z.B. „Frühlingstraum“) - umarmt er die Birke (zum „Lindenbaum“), sieht das verlorene Liebesglück dreifach wie eine Fata Morgana („Die Nebensonnen“). Gestalten huschen und hasten wie auf der Flucht. Karen Ilaender – erfreulicher Neuzugang im Ensemble - tanzt bizarr eckige Sequenzen mit eisig gleißenden, starren Augen („Gefrorene Tränen“) und trippelt auf hohen Pumps wie die Krähe ziellos, angstvoll umher. Schwarze Gestalten breiten die Arme wie Schwingen aus, klatschen an die Wand wie Vögel gegen Fensterscheiben. Halbblinde Spiegel baumeln zuletzt von oben herab, fangen die Gesichter der Zuschauer schauerlich ein.
Mit reglos ernsten Mienen zelebrieren die vier Tänzerinnen und vier Tänzer Goldins sehr homogenen, expressionistischen Ausdruckstanz, der auf Rhythmen, Dynamik und Tempi der Musik in subtiler, raffiniertester Weise Bezug nimmt. Der „Leiermann“ (24. Lied) umklammert die Szenenfolge. Am Schluß erklingt das Lied ganz schlicht im Original - ohne den anfänglichen Echoeffekt durch die Mischung einer Aufnahme mit Brigitte Faßbender und der des Tenors Christoph Prégardien, begleitet von den leicht „schrägen“ Klängen des Hammerklaviers. Im Wechsel singen dazwischen die beiden und Peter Anders (in einer historischen Aufnahme von 1945). Diese außergewöhnliche musikalische Collage vom Band ist eine überraschend stimmige, originelle Alternative zu Hans Zenders theatralisch verfremdeter Interpretation von Schuberts Original, die u.a. John Neumeier, Daniela Kurz und Heidrun Schwaarz verwendeten, während Bernd Schindowski den Zyklus 1980 als Erster überhaupt im Original choreografierte.
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