Aus einer anderen Zeit
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Susanne Linke, Guilherme Botelho, Yuval Pick und Renate Graziadei: Halbzeit bei Tanz im August
Auch das zweite Drittel von „Tanz im August“ überraschte mit gleichbleibend hohem Niveau der Gastspiele. Und bot einander ähnelnde Themen, in konträrer Stilistik. Zu den Großen des deutschen Tanztheaters gehört Susanne Linke. Während Pina Bausch gesellschaftlich brisante Fragen im Ensemble auf die Bühne stellte, war Linke meist Interpretin eigener Stücke in der Tradition des Podiumstanzes der Ausdrucksära. Selbst wenn sie mit Gruppe arbeitet, wie jetzt bei „Kaikou“, erinnert die Bewegung an jene Soli. Das japanische Wort für Seelenwanderung inspirierte die Choreografin erst zum Solo für einen Ballett-Tänzer, dies zum Adagietto aus Mahlers 5. Sinfonie. Das im Radialsystem V uraufgeführte Trio weitet die Idee aus, flicht Mahler Klangschattierungen von Wolfgang Bley-Borkowski ein: als Stück über den herben Weg der Menschwerdung und die Rudimente der tierischen Herkunft am Exempel dreier Männer. Das vollzieht sich auf atmosphärischer Bühne: Im Nebel zieht ein Laserstrahl einen unentrinnbaren Kreis, Bildmetapher für das ewige Stirb und Werde aller Existenz. Linke selbst als Urmutter schwingt den Stab, tastet nach Leben. Das repräsentieren die Tänzer, die unterschiedlich in Zeit und Temperament heraustreten, jeder animalisch geschmeidig kriechend und äugend, bis Schüsse sie niederstrecken. Die Metamorphose zum Menschen verstrickt sie in Kämpfe, lässt immer wieder das Tierhafte aufscheinen, derweil die Mutter ihre Bahn zieht. Auch Zärtlichkeit hat unter den Männern kurz Platz. Fein gearbeitet sind die Soli und Duette, die Urs Dietrich, Henry Montes und dem kampfsportlichen Brice Desault Körperschräge, Trancedrehung, Schleuder, Sturz, Attacke abverlangen. Einzig der Schluss, Linke als zeichenhafte Urfrau, überzeugt nicht.
Das ist anders bei Guilherme Botelho, dem in Genf lebenden Brasilianer. Sein „Sideways Rain“ besticht in der Schaubühne durch Reduktion der Mittel, Konsequenz in der Durchführung, Brillanz der 16 Tänzer, einer der stärksten Festivaleindrücke. Alle Aktion spielt sich auf Parallelen zur Rampe ab, von links nach rechts, bildet so einen Endlosfries. Kriechen anfangs im Fastdunkel Vierbeiner, Insekten oder Lurche, langsam zu einem Schwellton vorüber, kribbeln sie rascher, bis einzelne dem steten Fluss kurz entweichen: Sie fallen auf den Rücken, rutschen, robben in aberwitziger Seitenlage, drehen tanzend auf allen Vieren vorwärts, ohne dabei auszuscheren. Minimale Änderungen der Gangart sind das, meist mit Bodenhaftung, bis der aufrechte Gang erreicht wird, mit rückblickendem Kopf dann oder zwischenzeitlicher Rolle vorwärts. Bleibt einer stehen, wird er von den Eilenden bestaunt, gerempelt, mitgerissen. Kein Entrinnen gestattet das Vorwärts unserer Entwicklung. Nach geraumer Zeit entfaltet der fortwährende Zug der Gestalten einen geradezu hypnotischen Sog, man wähnt sich mit auf einem Laufband, die Umgebung scheint rückwärts zu fahren. Gibt es Handkontakte zweier Tänzer, imitieren alle das allein, bis die Flut den Moment der Berührung fortspült. Überraschend das Ende. Im Stürmen ziehen die Tänzer am Daumen Seile auf, die als dichtes Gewebe mehrere transparent wippende „Wände“ formen; kaum springen die Menschen wie Gazellen durch, kippt die Entwicklung zum Beginn zurück: Schon kriechen wieder die ersten Vierbeiner.
Außergewöhnliches muss auch das Trio bei Yuval Pick leisten. Der in Frankreich ansässige Israeli legt im Podewil „Score“ als Gleichnis der erhitzten Stimmung in seiner Heimat an. Zu Straßengeräusch vom Band bringt Contact Improvisation das Trio sofort in Körperdichte: Immer stemmt, klammert, hechtet jemand, was impulsbedingt zu Umflügen, Schleudern, Verknotungen führt, die das Dreiergebilde sprengen. Daraus ergeben sich Soli besonders für Lazare Huet und Antoine Roux-Briffaud, scheinbar formlos in der Suche nach neuem Vokabular, mitunter das Diffuse streifend, dabei enorm kraftzehrend, ein Taumel für Tanzgladiatoren, bei dem Gelöstsein Form kreiert. Während am Ende ein Duo mit Anna Massoni läuft, reißt der andere Tänzer im Karree den Boden auf, fördert unter Röte wieder nur Röte zutage.
Ebenso anregend geriet eine Installation, betanzt wiederum im Radialsystem V von Renate Graziadei. Ihr „Habitat“ schuf Volker Schnüttgen: sieben teils begehbare, eichenhölzerne Skulpturen, in denen sich Monitore verstecken, auf die einzeln und mehrfach übertragen wird, was die Tänzerin an Abstraktem live ausführt. Als Bild ihrer selbst bezieht sie jene Plastiken, als Mensch bewegt sie sich zwischen ihnen, ehe sie die Kleidung wechselt. Habitat als Lebensraum im doppelten Sinn.
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