Das Harakiri des Verführers
Uraufführung im Theater Regensburg
Es ist der Ellenbogen, der zunächst auffällt. Statt langer gerader Linien, die parallel oder quer geschnitten in den Raum gezeichnet wirken, wie man es acht Jahre von Olaf Schmidt vorgesetzt bekam, erscheint endlich die Krümmung. Immer wieder. Im Arm, im Bein, in der Nackenlinie, im Torso. Um diese fließt alles. Jedes Gelenk wirkt dabei wie eine Öffnung. Es ist ein durchlässiger Körper, mit dem hier gearbeitet wird, mehr ein System von Kanälen, das hier bedient wird von einem Mann aus Japan, der vor allem an einem interessiert zu sein scheint: an Energie und ihrer Modellage in Raum und Zeit. Yuki Mori, seit wenigen Wochen als neuer Ballettdirektor des Theater Regensburg im Amt, zeigte jetzt erstmals, wer er ist und wer er sein kann.
Zwei Uraufführungen kreierte er für Regensburg, subsumiert unter dem Titel „Zeit. Raum!“ – Grundkategorien, in denen Tanz sich ereignet, ergänzt um die Regensburger Erstaufführung von „Carmencita“ seines ehemaligen Chefs und Ziehvaters Stefan Thoss, einer humorvollen Persiflage auf Arien der Opernwelt. Im Vergleich zu dessen massiverer und klassischerer Bewegungssprache, die in diesem Stück an einen repräsentativen, figurativen Körper gebunden ist, tritt bei Mori ein Bewegungsvokabular zutage, das einer anderen Zielsetzung gehorchte: der Hervorbringung von Bewegungsflüssen, die sich in den Raum ergießen, sich dort wie ein Delta öffnen, einer Linie folgen, wieder als Strömung durch den Körper rückgeführt werden, um an anderer Stelle, dem Bein, dem Ronds der geöffneten Arme wieder in den leeren Raum auszufließen. Jede Form verschwimmt hier, ist nur Passage, was einen großen Reiz ausübt.
Auf die Spur kommt man diesem hochtalentierten Kollegen vor allem auch, wenn man das Verhältnis seiner Bewegungsflüsse zur Musik beobachtete. Hier erschloss sich, wer Mori sein kann oder wird, wenn er wagt, konsequent zu sein – konkret: Wenn er sich irgendwann seinen eigenen Komponisten leistet. Denn ausgewählt hatte er für sein erstes Stück „Incantations“ – „Verzauberungen“ eine Klavier-Klang-Komposition von Alexandre Rabinovitch. Mori ist keiner, der auf die Musik choreografiert. Zwar ließ er sich von ihr antreiben, vorwärtspreschen, aufrütteln, hineinziehen – kurzum: inspirieren, und er folgte ihr auch, indem er auf signifikante Momente aufsattelte. Doch meistens schien er in die Atempausen, die Löcher und Spalten, die die Musik mit sich brachte, hineinzuarbeiten. Seine Choreografie offenbarte sich in diesem Verhältnis als komplett eigenständig und bestand auch derart mächtig, dass die Musik, auf die das Stück geboren worden war, auf der Bühne, man wagt es zu sagen, gar nicht mehr hätte ertönen müssen. Stärker noch: Stellenweise beschwerte sie, was sich energetisch auf emotionaler Ebene in Stille hätte entfalten können: als Mininarration, als Ereignis aus Tanz zwischen Menschen, weil dieser Tanz von der Anlage her so wenig bis nichts darstellen will und insofern auch nicht als Repräsentant eines musikalischen Inhalts funktionieren konnte.
Ihren Grund hatte dieses unbeschwerte Potential seiner Choreografie für neun Tänzerinnen und Tänzer in einem virtuosen Umgang mit plötzlichen, unerwarteten Stopps, Verlangsamungen, Dehnungen und Dynamisierungen der Bewegungsflüsse, die Umlenkungen initiierten und das Zeitempfinden differenzierte. Zusammen mit den repräsentativen Objekten auf der Bühne, einem überdimensionalen Ring in silbergrüner Farbe und einer obelisken, silbernen von der Decke hängenden Fläche ergab sich so eine Anordnung, die ein ganzes luftiges Prisma an Ereignis und Energie lebendig werden ließ. Diese Beobachtung ließ sich auch während der zweiten Uraufführung aufrecht erhalten, einem Pas de Quatre namens „Schwarzer Regen“ auf Musik von Max Richter. Unmissverständlich stand der schreckliche Abwurf der Atombombe auf Hiroshima thematisch am Ausgangspunkt des Stückes. Zu sehen war ein schwarz gekleidetes, erstarrtes Paar, das einen Einbruch in die Gemeinsamkeit zu erleiden hatte, einem anderen Paar in heller, militärisch angehauchter Kleidung gegenüber. Was das Programmheft viele Zeilen lang behauptete und an Inhalt in diese Choreografie hineinzutragen versuchte, erwies sich wiederum dünner als die tatsächliche, energetisch bereichernde Bewegungserfahrung, die man hier machen konnte. Weiter so.
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