Auf dem Narrenschiff
Ein Fotoblog von Dieter Hartwig über Toula Limnaios' „la nef des fols“
„if I was real – Eine erste Skizze“ der cie. toula limnaios
Mit einer Doppelaxt zelebriert Hironori Sugata magische Kreise und Schwünge auf der Vorbühne. Ein Ritual voller Eleganz und souveräner Ruhe. Sieben Menschen stehen in einer Reihe hinter einer Gaze. Geteilte Räume. Schatten und Licht. Eine Stunde später wird sich Joszef Forro tanzend wie im russischen Märchenfilm vervielfältigen, seine Gestalt, x-fach aufgefächert, ihn selbst erstaunen. Wer ist der echte? Räume schieben sich ineinander; ein Bohrer dringt akustisch in sie ein, sprengt sie auf. Mit einem Schattenwesen im schwarzen Tüllrock und Grubenlicht-Krone (Ausstattung Antonia Limnaios) schauen wir in den Tunnel menschlicher Spiegelungen. Hinter der Gaze klopft das Septett im Halbkreis sitzend rhythmisch mit Steinen gegen die Angst an – im finalen Taumel dreht, rollt, kippt Giacomo Corvaia schwerelos leicht und wieselflink auf Knien – ein zarter rätselhafter Nachtmahr und kindlicher Kobold.
Ganz erstaunlich, wie Toula Limnaios und ihre seit zehn Jahren in der HALLE TANZBÜHNE BERLIN beheimatete Kompanie sich immer wieder neu erfinden. Für „if I was real – Eine erste Skizze“ (ihre 34. Tanzschöpfung) ließ sich die griechische Choreografin erneut von frühen Essays Albert Camus anregen. Dessen libertäre Schriften gegen Terror und Tod, zugleich ein Plädoyer für ein Leben nach menschlichem Maß sind, sind zum Ausgangspunkt dieser „choreografischen Sammlung“ geworden. „Es gibt keine Liebe zum Leben ohne Verzweiflung am Leben“ schreibt Camus. Genau diese Absage an einen polarisierenden Blick auf Licht- und Schattenseiten der Welt ermöglicht die Häutungen, das Freilegen unterschiedlichster Affekte, das plötzliche Aufleuchten divergierender Existenzen.
So schweifen die acht Interpreten in einem dreifach geteilten Bühnenraum zwischen Welten umher. Ralf R. Ollertz' minimalistischer Soundtrack mixt brachiales Rattern von Steinbohrern mit einem Gespinst leise flirrender Töne, die ineinander gleiten, sich splitten. Ein Klangteppich schwebender Leichtigkeit und intensiver Langsamkeit trägt das Tänzer-Oktett in die emotional aufgeladenen Bildsplitter.
Die Protagonisten erinnern in den mehrstimmigen Solo- und Gruppenbildern nur noch wenig an Einzelkämpfer, zerrüttete Individuen, die sich im Gegeneinander verausgaben. In dieser neuen Arbeit löst Toula Limnaios hingegen die kraftvollen Unisono-Formationen permanent auf. Sie kreiert sinnliche Bewegungs-Spiegelungen flüchtiger, empfindsamer Schönheit. Manchmal erstirbt der Bewegungsfluss und die schönen, interessanten Frauen erscheinen wie übergroße Kinder. Langsamste Bewegungen voller Zartheit verbinden ein Paar im Duett mit dem Apfel – Ann-Christin Zimmermann und Giacomo Corvaia fast nackt wie Eva und Adam hinter der Gaze, auf der einzelne ihrer liebevollen Bewegungssequenzen im Fokus des Lichts aufscheinen, während davor Menschen die Suche nach dem Anderen fortsetzen. Marika Gangemi, die a capella zusammen mit der Gruppe begleitet von Gebärdensprache ein Lied über die Freiheit angestimmt hat, wird zwischen zwei Männern mit Genuss verschoben und später wie eine Ikone halsbrecherisch gehoben. Karolina Wyrwal erzählt in immer neuen Anläufen von der anderen Seite der Nacht; hechelnde Laute konturieren dunkle Abgründe.
Schatten, oft Chiffre für Lebendigkeit, erstehen hier als Zeichen der Angst vor der Fremdheit einer durch das Individuum unkontrollierbaren Welt in und um uns. Der Stücktitel impliziert die Möglichkeit zur Andersartigkeit des Subjekts. „if I was real“ feiert die Liebe als einzige Kraft, die Vertrauen schafft. Die wandlungsfähige cie. toula limnaios schenkt uns einen getanzten Essay inspiriert von Camus‘ „l‘envers et l‘endroit/Licht und Schatten“ über Möglichkeiten des Seins. Leise, geheimnisvoll, offen für neue Blickrichtungen, ein bisschen ver-rückt.
Wir dürfen auf die zweite Skizze gespannt sein.
Weitere Aufführungen 12. – 15. Dezember, jeweils 20 Uhr, HALLE TANZBÜHNE BERLIN
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