Fremd im Eigenheim
„Nussknacker und Mäusekönig“ mit tiefenpsychologischem Blick neuinterpretiert von James Sutherland und Robert Eikmeyer
James Sutherlands „Quartett“ - Ein faszinierendes Tanzstück mit Molltrübungen.
Zart perlen die Töne „Für Alina“ des Esten Arvo Pärt (1935), Liliana Turicianu verbindet sie am Piano zu feinen Klangketten, die in Da-Capo-Schlaufen mäandern. Durchdrungen von Pärts Tintinnabuli-Stil (Glöckchen-Stil), sensibilisiert der glockenreine Klang „die Art wie wir wahrnehmen“. So übertitelt James Sutherland den ersten Part seines neuen Balletts „Quartett“, dem die Teile II bis IV folgen: „Die Art, wie wir denken, wahrgenommen zu werden“, „Die Art wie Wahrnehmungen kollidieren“ und „Der Wiederaufbau neuer Wahrnehmungen“.
Inspiriert von der Lektüre des Romans „Alexandria-Quartett“ des britischen Schriftstellers und Diplomaten Lawrence George Durrell (1912-1990), übernimmt der Choreograf das Thema „wechselnder Perspektiven“. Im vierteiligen Romanzyklus wird die Erzählung rund um die Hauptfigur Justine durch unterschiedliche Blickwinkel gebrochen. Sutherland abstrahiert von der Story, transponiert mit Hilfe von Bühne, Licht und Video-Projektionen das Sujet ins Allgemeine, Strukturelle und schafft in Kombination mit der Musik ein raffiniertes Vexierspiel aus Introspektion, narzisstischer Selbstbespiegelung und reflektierender Wahrnehmung.
„Ruhig, erhaben, in sich hineinhorchend“ schreibt Pärt aufs Notenblatt „Für Alina“. Auch ohne Kenntnis dieser Anweisung wendet sich die Aufmerksamkeit nach innen, schweift ins Bühnendunkel, wo eine zart gekräuselte Wasseroberfläche, als Projektion auf einem Quadrat, erscheint. Im Sog dieses Schlüsselreizes, der eine Fülle an Assoziationen aufruft, bleibt der erste Auftritt der Tänzerin fast unbemerkt. Immer mehr Tänzer tauchen auf und wieder ab, aus dem einen Quadrat werden drei, die sich wie Sichtblenden in immer neuen Konstellationen zwischen Tänzer und Publikum schieben.
Sutherlands Wahrnehmungsschule, durchzogen von Pärts musikalischer Theologie („Für Alina“, „Tabula Rasa aus „Ludus“ und „Spiegel im Spiegel“), stützt sich auf Streicher-Preziosen der polnischen Avantgarde, namentlich Wojciech Kilar (1932) und Krzysztof Penderecki (1933). Sie endet mollgetrübt in einem sublimen Duett, leise rieselt dazu Schnee und es erklingt Samuel Barbers (1910-1981) weltberühmtes Frühwerk „Adagio for Strings“, zu dem viele Prominente, unter anderem John F. Kennedy, Albert Einstein und Grace Kelly zu Grabe getragen wurden.
Kulminationspunkt ist Gustav Mahlers (1860-1911) „Klavierquartett a-Moll“, bei dem zwei Tänzerpaare zu aufeinander treffen. Ebenfalls ein geniales Frühwerk, in dessen unvollendetem Scherzo-Satz die sich anbahnende Heiterkeit ins Nichts läuft. Wie Sutherland die Spannung der Musik in klare skulpturale Bewegungen ummünzt und in diversen Symmetrien in den Raum setzt ist faszinierend. Begegnung und Trennung der vier Protagonisten Nozomi Matsuoka, Risa Yamamoto, Toshitaka Yamamura und Sho Takayama, sind vom Atem der Musik durchpulst, hochmusikalisch und ausdrucksstark, aber ohne ein Gramm Pathos; diesem Quartett im „Quartett“ könnte man ewig zuschauen – selbstvergessen und zeitverloren, Qualitäten, die die vier Japaner ebenso meisterhaft beherrschen wie den abstrakt expressiven, sehr physischen Tanzstil des Pforzheimer Ballettchefs.
Info: „Quartett“ Tanzstück von James Sutherland am Theater Pforzheim (Großes Haus). Weitere Vorstellungen am 17. und 19. Februar, 9., 10. und 24. März sowie am 5. April.
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