Nach reiflicher Überlegung
Martin Schläpfer zum neuen Direktor des Wiener Staatsballetts berufen
Lakonisch nennt Schläpfer sein Programm b.17 „7“ - ein abendfüllendes Ballett, das dritte nach Morton Feldmans „Neither“ und dem „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms. „7“ ist, rechnet man „Sinfonia I und II“ von Killmayer nicht mit, das siebte sinfonische Werk, das Schläpfer choreografiert. Das 80-minütige Tanzstück auf Gustav Mahlers 7. Sinfonie in e-Moll könnte auch „Heimat“ heißen. Denn spätestens bei dem unvermittelten Kuhglockenläuten und -bimmeln im zweiten Satz vermutet man den Auslöser für die Wahl der Musik: dem Bauerssohn aus dem Appenzeller Land kommen heimatliche Gefühle. Da stampfen Männer in derben Stiefeln, klatschen die flachen Handflächen laut auf den Boden, berühren mit flirrenden Fingerspitzen die Schenkel. Im Scherzo gar treiben die Frauen wie alemannische Hexen Mummenschanz mit Fratzen und wackelndem Hinterteil - Schläpfers „Appenzellertänze“ sind nah.
Aber es ist noch eine ganz andere Folklore auszumachen: kleine Gruppen von Männern in fransen-besetzten Westen oder schmalen langen Mänteln legen sich die Hände zum Rundtanz auf die Schultern. Auf der ernsten Seite spürt Schläpfer dem Lebensgefühl des böhmischen Juden Mahler nach - und der jüdischen Heimatlosigkeit. Gleich zu Beginn, hinein in die zerklüftete Einleitung des 1. Satzes, tritt ein schwarz-gekleideter Mann auf, gebeugt, erschöpft und schließlich wie von unsichtbarer eiserner Hand zu Boden gedrückt. In einer späteren Szene presst eine Tänzerin eine kostbare Eroberung an sich. Wie ein Schlangenmensch windet sie sich um den kleinen schwarzen Hocker, kriecht drunter, knüllt sich zusammen. Aber nie reicht das kleine Möbel zum Dach überm Kopf. Die Jubelorgie des Finalsatzes (mit seiner unüberhörbaren Nähe zu Wagners „Meistersinger“-Festwiese) konterkariert Schläpfer mit einem furiosen Ensemble: alle stürmen mit Hockern auf die Bühne, stellen sie im Kreis ab, rennen drum herum, setzen sich hastig. Ein paar gehen leer aus bei dieser „Reise nach Jerusalem“…
So wie der Komponist sich alle Vielfalt der Welt erlaubt - im Instrumentarium fürs Klangkolorit, für die emotionalen Wallungen permanenter Wechsel von Tempi, Rhythmen, Stilen und Tonarten - so bedient sich der Choreograf der Techniken vom klassischen Ballett bis zum zeitgenössischen Tanz und setzt allerlei Schuhwerk ein von Straßenschuh und Stiefel bis zu Schläppchen und Spitzenschuh. Florian Ettis Kostüme sind schwarz - Mäntel, Kleider, Stiefel, Hosen - gelegentlich strenge weiße Hemdblusen (ein einziger Mann erlaubt sich einen lässigen Kasak) zu schwarzen Röcken oder Hosen. Männer tanzen barbrüstig und -füßig. Selten aber wagt eine Frau, die Haare aus dem strammen Knoten oben auf dem Kopf zu lösen. Die große Bühne bestückt Etti als „zu Hause“ mit schwarz-blauen Lamellenjalousien, die ausgerechnet in den mittleren „Nachtstücken“ hochfahren, um grelles Tageslicht hereinzulassen.
Alle 48 Tänzerinnen und Tänzer des fabelhaften Ballett am Rhein - darunter elf Neuzugänge - haben ordentlich zu tun, Schläpfers überbordenden Ideenreichtum, seine virtuosen Kabinettstückchen und exakten Raummuster in unterschiedlichsten Formationen von „tutti“ bis „solo“ zu präsentieren. Die Düsseldorfer Symphoniker spielen Mahlers facettenreiche Partitur unter Axel Kobers Leitung farbenreich und transparent. Derart „bebildert“ könnte Mahlers selten aufgeführte „Siebte“ größere Popularität erlangen. Schläpfer hat auch die gute Zusammenarbeit mit den Musikern in Düsseldorf und Duisburg immerhin dazu bewogen, seinen Vertrag mit der Deutschen Oper am Rhein zu verlängern.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments