KOMOT oder Nachbarn sind meist unangenehmer als nett
Nir De Volff/TOTAL BRUTAL mit eine Uraufführung im Dock 11
Nir De Volff/TOTAL BRUTAL präsentiert „Diary of a Lost Decade“ als deutsche Erstaufführung
Auf der Suche nach einem Ort, wo die Plätze mit Gold gepflastert sind, stranden fünf Menschen in einem Berliner Nachtclub: Katharina aus Oldenburg, Chris aus Australien, Florian aus Frankreich, Natalia aus Sao Paulo und Arie Oshri aus Tel Aviv. Magnetisch angezogen von den Verheißungen einer Metropole, die schon in den 1920er Jahren mit Charleston und Flitterrevuen die Krisenängste übertünchte und grenzenlose Freiheit versprach, strampeln sie sich ab, hasten aneinander vorbei, liefern sich aberwitzige Wortgefechte und überdrehte Anmache-Szenarien. Die ewige Jagd nach Freunden und Money treibt die Glückssucher in immer neue Amplituden von Power, Wut und Erschöpfung. Der seit 2004 mit seiner Kompanie TOTAL BRUTAL in Berlin wirkende israelische Choreograf und Performer Nir de Volff befragt in seiner neuesten Arbeit auf die ihm ganz eigene Art Prototypen der Berliner Partyszene.
Detailfreudig, temporeich und überraschend im Wechsel von Slapstick, Ernsthaftigkeit, augenzwinkernder Situationskomik und Härte entstehen die Stücke als erkennbare Teamarbeit, irritieren und begeistern durch eine lustvolle gestische Verquickung von Tanz, Wort, Musik, Bühnenbild und Requisiten, Kostüm und Licht. Alle Darsteller und Darstellungsmittel sind ausdrucksstarke Teile des Spiels. Das gilt auch für die deutsche Erstaufführung der Revue „Diary of a Lost Decade“. Der Aufführungsort Festsaal Sophiensaele ist eine atmosphärische Location. Roey Heifetz kreierte einen doppelbödigen Nachtclub-Bühnenraum in dem Florian Bilbao, Claus Erbskorn, Natalia Fernandes, Chris Scherer, Katharina Maschenka Horn und Arie Oshri im trashigen Outfit (Kostüme Iva Wili) ihre Ängste ausleben.
Die Fallhöhe der Showteile ist dabei beträchtlich. So amüsiert erneut Chris Scherer beim tolldreisten Deo-Flirt, Katharina Maschenka Horns durchgeknallter Drang nach Frohsinn endet im miauenden Winseln nach Berührung. My body is my temple, der nichts fühlt. Sie tanzen alle zusammen, doch jeder tanzt für sich. Im Spot verbiegen sich die Akteure in exaltierten Posen der Golden Twenties und kassieren ein paar Geldscheine aus der Hand des Conférencier Claus Erbskorn, der als Musiker im schwarzen Glitzerjackett auch E-Gitarre und Windmaschine zum Klingen bringt. Drag-Show-Star Arie Oshri (der in Berlin als Koch arbeitet) singt mit samtener Stimme und insistiert mit messerscharfem Ton auf österreichische Sauberkeit. Prompt erklingt der Donau-Walzer und vier Performer zelebrieren in roten Heels unisono sportliche Formationen ohne jede Emotionalität. Als fliegende Yogis treten sie ab und setzen sich als durchgeknalltes Panoptikum - Sexpudel mit iPhone zwischen den Zehen, hochschwangere Nixe, fettleibige Bikiniqueen, Samba-Obstgirl und Sexprotz - in Szene.
Tanz auf dem Vulkan. Party bis zum Abwinken. „Ich weiß nicht zu wem ich gehöre“ klingt es aus dem Off. Zombies posieren, der Pudel hebt das Bein. Claus Erbskorn spricht von anderen Zeiten, philosophiert, befragt die Akteure, die dem Teufel einfach so ihre Seele hinterher werfen. „Arm aber sexy – ist dies die armselige Entschuldigung dafür faul in den Tag zu leben? Diese Stadt ist die Hölle light“. Oberflächlichkeit, Ängste, Aktionismus. Goldstaub rieselt. Die Partyjünger verschwinden ins Nichts. Nur Natalia Fernandes, die das Leben körperlich fühlt und nicht in angelernten Turniertanzposen oder Worthülsen existieren will, blickt mit uns Zuschauern auf das weinende Gesicht einer Frau. Vom großen hinteren Vorhang aus hat sie, die an Marlene erinnert, neunzig Minuten auf das prä-apokalyptische Szenario menschlicher Ängste und Verluste geschaut
„Diary of a Lost Decade“ , am 4. Oktober uraufgeführt in Tel Aviv, wird jetzt in den Berliner Sophiensaelen zum nachdenklichen Ereignis.
noch bis 20. 10. 2013, 19.30 Uhr in den Sophiensaelen Berlin
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