Goecke geht nach Basel
Marco Goecke folgt dort planmäßig auf Adolphe Binder
Egal, um welches Stück von Marco Goecke es sich handelt: Es gibt immer diesen einen Moment, in dem der dargebotene Tanz das Vorstellungsvermögen sprengt und Grenzen überschritten werden. Das Stück wirkt dann sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne verrückt. Denn Goecke gelingt es immer wieder, das menschliche Dasein in seinen Grundkonflikten sinnbildlich und auf den kaum aushaltbaren Punkt hin auszuformulieren. Wie kaum ein anderer Choreograf der internationalen Ballettwelt derzeit und vielleicht nur vergleichbar mit William Forsythe und dessen choreografischer Meisterarbeit „Decreation“, benutzt und macht Goecke den Körper als Schauplatz von Bürden, Ängsten und des Überlebenmüssens erfahrbar.
In seiner jüngsten Neuschöpfung - Goeckes tatsächlich fünfzigster Kreation in 15 Jahren - sie trägt den Titel „Sigh“, was soviel wie „Seufzer“ oder „Gesäusel“ bedeutet und mit den Tänzern des Balletts in Monte Carlo erarbeitet ist - geschieht dieser Augenblick der Grenzverschiebung als das Stück auf seinen Höhepunkt zusteuert: George Oliveira treibt, eingebettet in das melancholisch-sanfte, behutsam gesungene „Letting Go“ von Bonnie Prince Billy, mit nacktem Oberkörper und langer schwarzer Hose aufrecht auf dem Boden sitzend seinen Körper mit den für Goecke typischen kleinteiligen, zerschnittenen, flatternden und zitternden, schier endlos schnell wiederholten Bewegungen in jenen anderen Körper hinein, der ihn als durchlässigen Resonanzkörper sichtbar zum Ausdruck bringt. Eine Fülle von Assoziationen entlädt sich. Oliveiras Körperkörper kann als Symbol für jedwedes Leiden gelesen werden, das entsteht, wenn der Mensch einem Hunger ausgesetzt wird: nach Freiheit, Unversehrtheit, Gewaltlosigkeit, Unendlichkeit. Im Gegensatz zu Forsythes Ansatz, mit Wortsprache und der Dramaturgie der Tänzer zu arbeiten, ist Goecke alleiniger Autor seiner Werke.
Als einziger deutscher Choreograf der Gegenwart hat er eine internationale Karriere seinesgleichen aufgebaut: Weltweit entwickelt er sein unverwechselbares Werk einer originären Tanzsprache. Unter den Choreografen ist er der Zeichner und Maler. „Sigh“ ist ein großartiges, kraftvolles, hell scheinendes Triptychon über Präsenz, Vergänglichkeit und Transformation - mit einem Epilog. Wie gewohnt präsentiert Goecke vor und nach dem ergreifenden Solo von Oliveira Mikrobegegnungen zwischen aufrecht stehenden Männern und Frauen und fächert dabei ein breites Spektrum von Energien und Qualitäten auf, das sich schlicht ergibt, wenn Menschen aufeinandertreffen. Die Grundfarben bilden Kompositionen für Violine von Pablo Casals und Peteris Vasks. Zum Schluss darf sich Jeroen Verbruggen, Goeckes Muse, in einem langen Abschiedssolo entfalten, nachdem er den Prolog zu Oliveiras Mittelteil getanzt hatte: ein sich zuweilen comichaft, bizarr verdrehter, mehrfach mehrere Achsen bespielender Körper. Am Ende findet Goecke zwischendurch zu unendlich langsamen, aussschwingenden Bewegungen. Verbruggen, entwaffnend offen zeigt er dem Publikum sein Gesicht, verbeugt sich nach einer langen Tänzerkarriere vor seinem Publikum.
Betrachtet man Goeckes Neukreation im Kontext der anderen Stücke des Abends -„Petite Mort“ von Jirí Kylián aus dem Jahr 1991 und „New Sleep“ von Forsythe aus dem Jahr 1987 - wird deutlich, wie sehr Goecke dem Bühnentanz durch sein Körperbild und seine eigene polyperspektivische Arbeitsweise neue, der Gegenwart entsprechende künstlerische Ausdrucksweisen erobert hat. Sie öffnen die kühle Prägnanz und intellektuell attraktive Verrätseltheit in Forsythes „New Sleep“, das die Tänzer von Monte Carlo gestochen scharf auf die Bühne meißeln, und geben dem erhabenen, ästhetisierten Kammerspiel von Kylián die nervöse Wendung in die Gegenwart. Schade nur, dass den Tänzern bei Kyliáns Stück jene Stabilität fehlte, die sie im Anschluss mir Bravour aufwiesen.
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments