Mit verbaler Komponente
Abschlussbericht zur Tanzwerkstatt Europa 2020
Im zeitgenössischen Tanz fallen wieder einmal die Hüllen . Alter Hut? Einerseits schon: Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird in regelmäßigen Zyklen kostümlos getanzt – was zudem kostengünstig ist. Spaß beiseite: wenn die 25. Ausgabe von Walter Heuns Münchner Tanzwerkstatt Europa den Schwerpunkt auf den Körper in seiner Naturbelassenheit legt, schwimmt sie zwar im aktuellen Trend mit, stellt im selben Atemzuge aber auch klar heraus, wie sich Bild und Verständnis von getanzter Nacktheit verändert haben.
In den 1910er-/20er-Jahren sprangen die Lebensreform-Jünger des Tanz-Philosophen Rudolf von Laban, befreit vom Korsett des Balletts und des Kostüms, nackt über die Wiesen des Tessiner Monte Verità. Leni Riefenstahl feierte in den 1930ern, ganz im Sinne der NS-Ideologie vom arischen Menschen, choreografisch und filmisch den vollendet gebauten Körper. Genau das Gegenteil jetzt in der Münchner Muffathalle bei Doris Uhlich: Österreichs gerade angesagteste Tanzfrau übt mit ihrer an der eigenen üppig weiblichen Form entwickelten „Fetttanztechnik“ den Befreiungsschlag von der Schönheitsdoktrin unserer Werbe-Idealwelt. Einmal in einem Solo, sonst durchgehend als DJ an der Musik-Konsole, führt sie ihre 19 Tänzer zurück zum paradiesischen Unschuldsgenuss an der gottgegebenen Gestalt. Sie lassen bei sich selbst und wechselweise bei einem Partner, entweder mit Händen oder auch mit dem Fuß – was schon einige komische Effekte erzielt – rhythmisch Busen hopsen, schwabbelige Unterarme, Oberschenkel, Hinterbacken und Bauchfett beben, wackeln und zittern. Man hat sowas im Januar dieses Jahres schon beim übergewichtigen Benny Claessens in Jan Decortes „Much Dance“ für die Münchner Kammerspiele gesehen. Dort auch im Juni frivol-animalisch sich beschnuppernde und betastende Nackte in Meg Stuarts uraufgeführtem „Until our hearts stop“. Unübersehbar: irgendwer entdeckt die nackte Leiblichkeit wieder einmal als Thema, und sofort springen andere auf den Zug auf. Gleichviel: Uhlich ist wenigstens authentisch. Nicht nur, dass sie die selbstironische Idee von tanzendem Fleisch, zwischen Gruppen-Hüpfen und -Ruhen, zwischen vibrierenden Mehrfach-Mensch-Skulpturen und laut klatschendem Zu-Boden-Stürzen, beachtlich systematisch durchgearbeitet hat. Und Nacktheit ist dabei die Bedingung zum Stück – sonst wäre da choreografisch nicht viel. Aber ihr Titel „Mehr als nackt“ hat seine Berechtigung: Uhlich erreicht mit ihren Tänzern eine von jeglichem erotischen Anflug freie Atmosphäre, die man, ob von ihr gewollt oder nicht, als Protest gegen unsere übersexualisierte Gesellschaft deutet.
Nacktheit eignet sich immer noch erstaunlich gut als Waffe zum Protest. Internationale Beachtung erkämpften sich, nur zum Beispiel, seit 2008 „Femen“, die ukrainischen Aktivistinnen für Frauenrechte, mit ihren „Oben-ohne-Aktionen“. Bester Beweis, dass ein nackter Körper auch heute noch Ärgerniserreger und davor Aufmerksamkeitsfänger ist – und das obwohl er durch die Medien als Werbeträger und Sex-Fetisch allgegenwärtig ist. Aber da ist Nacktheit eben mediatisiert. Bei einem live gesehenen nackten Körper geht unser Blick nämlich, das ist von der Natur so angelegt, automatisch zu den Geschlechtsmerkmalen, wie der Bioethnologe und Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt herausfand. Diesen Reflex nutzten im puritanischen Amerika der 1960er-Jahre Künstler wie der Theaterregisseur Richard Schechner, die zwischen Malerei, Film und Performance arbeitende Carolee Schneemann und die Choreografin und Dance-Happening-Pionierin Anna Halprin: für feministische Anliegen und einen längst fälligen Tabu-Bruch, zur Bewusstmachung des Körpers schlechthin oder auch zur Anti-Vietnamkrieg-Kampagne.
Und hier knüpft die Dänin Mette Ingvartsen, zur Zeit auf allen Festivals vertreten, für ihr bei der TWE gezeigtes „69 Positions“ an. In einem nüchternen, auf die Schwere-Reiter-Bühne gebauten Ausstellungsgeviert mit rundum aufgehängten eher dürftigen Texten, Fotos und Video-Schnipseln liefert sie Nacherzählungen unter anderem von Schneemanns 1964 beim Pariser „Festival of Free Expression“ uraufgeführtem „Meat Joy“ (fleischliche Freuden). Acht leicht bekleidete Darsteller tanzten darin mit rohen Fischen, gerupften Hühnern und flüssiger Farbe. Schneemann wollte es – auf Anfrage von Ingvartsen – nicht mehr rekonstruieren. Ihr Body sei dafür jetzt doch zu welk. Klug so.
Wie nach dieser Absage die nordisch kühle Ingvartsen notgedrungen die damals vielleicht provozierende Impro-Performance beschreibt, hat diese jedoch nichts mehr von dem, was Schneemann als „erotischen Ritus“ und als entgrenzte dionysische „Feier von Fleisch als Material“ charakterisierte. Da hat man doch die Nackt-Bewegung der einstigen Sex-Rebellen schneller im Netz gegoogelt. Ingvartsen, immer mal wieder strippend und ein bisschen herum tänzelnd, leitet dann auch über zu ihren eigenen mit Sexualität beschäftigten Stücken. Dass sie als Tanzmuseums-Führerin und Demo-Frau dicht an ihren Zuschauern agiert, mit ihnen absichtsvoll eine Gemeinschaft bilden will, ist letztlich ein ziemlich geringer Erlebniswert.
Uns persönlich sagt diese Mischung aus Archiv-Ausgrabung, textlichem Vortrag und physischer Illustration – und Ingvartsen geht da bis zum stöhnenden Solo-Sex – prinzipiell eher wenig zu (wir haben, der Ehrlichkeit halber, den eindreiviertelstündigen Abend früher verlassen, aber Ingvartsens sexuelle Aktionen sind in den diversen Kritiken im Netz nachzulesen). Obendrein scheint diese bedauerlicherweise bereits als Genre etablierte hybride Form eine Flucht vor dem wesentlich anstrengenderen künstlerischen Prozess des Choreografierens - gleichgültig, wie geschickt sie legitimiert wird: Der zeitgenössische Tanz erhebt ja, anders als das auf Technik und Ästhetik fokussierte Ballett, den Anspruch auf intellektuelle und gesellschaftskritische Reflexion. Im Rahmen eines Tanzprogramme und Workshops koppelnden Festivals wie der TWE mag die sogenannte „Lecture-Performance“ noch am ehesten ihren Platz haben. Und die Zuschauer, darunter wohl auch TWE-Workshop-Teilnehmer, waren, zugegeben, von der gertenschlanken Dänin und ihrer charmanten Mitmach-Animation merkbar angetan. Das ist offenbar auch Tausendsassa Chris Dercon, 2003-2011 Leiter des Münchner Hauses der Kunst, ab 2017 der Berliner Volksbühne, der sie in sein künstlerisches Team aufnehmen wird.
Eine dem immer offeneren Zeitgeist entsprechende Veränderung, nämlich hin zum ritualisierten SM-Sex, erlebte man bei dem Berliner „Haut-nah“-Choreografen Felix Ruckert. Schon in den 1990er-Jahren legte er seine Zuschauer auf Massage-Bänke und ließ sie von seinen Tänzern physiotherapeutisch „behandeln“. In seiner aktuellen interaktiven Performance „Zen Spanking“ verbindet er Zen-Atemübung und verlangsamte Geste mit kräftigem Schlag auf das Hinterteil, was „spanking“ im Englischen bedeutet. So wird auch der Zuschauer-Körper garantiert als Schmerz-sensibler Empfänger erfahrbar. Womit die aktiven Teilnehmer allerdings leicht überfordert schienen. Aber es braucht auch schräge Vögel wie Ruckert, um die Festival-Routine etwas in Erregung zu bringen. Die restlichen TWE-Programme fanden in voller Bekleidung statt!
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