Kinder brauchen Märchen
„Schneeweißchen und Rosenrot“ von Jutta Ebnother mit der Deutschen Tanzkompanie
Im Dunkel der Zeit streut Alberich den funkelnden Gold-Samen, es wabert die Erde, sieben Frauen und sieben Männer treten aus dem Nebelfeld.
So beginnt das Tanzepos „Die Nibelungen“, das die Deutsche Tanzkompanie (DTK) Neustrelitz im dreiundzwanzigsten Jahr ihrer Existenz als Uraufführung in der Choreografie und Inszenierung von Lars Scheibner präsentiert. Der Stoff scheint wie gemacht für die DTK, die sich seit ihrer Gründung mit Traditionen, Mythen, Riten und deren assoziativer Kraft für die Gegenwart auseinandersetzt. Dramaturg Oliver Hohlfeld hat zusammen mit dem Choreografen wesentliche Erzählstränge des Nibelungenliedes für die tanztheatrale Deutung gebündelt. Tradierte mittelhochdeutsche Texte sind mehrfach aus dem Off, gleichsam aus der zeitlichen Distanz von achthundert Jahren, interpoliert. Dennoch zielt das szenisch-choreografische Geschehen von der Geburt Siegfrieds bis zu seinem Tod ganz auf menschliche Nähe zum Jetzt. Die Gier nach dem Goldhort der Nibelungen – archetypisches Gleichnis für menschliche Hybris.
Weniger im Tanz, sondern verdichtet im theatralen Bild, lässt Scheibner im Zusammenprall archaischer Körper den Zuschauer sich selbst in „seinen Urängsten, Ursehnsüchten, Urhoffnungen“ erkennen. Der schwarze Bühnenraum, ein Energiefeld, zentriert auf die schwarz-beige gekleideten Menschen, die Kampfbemalung der Gesichter, Männer mit freiem Oberkörper und beredte Requisiten (Ausstattung: Robert Pflanz) jenseits mittelalterlicher Bebilderung.
Durch überbordende theatrale Fantasie und eine Fülle an symbolischen Zeichen gewinnen die handelnden Figuren anfangs kaum erkennbare Konturen. Die Inszenierung hetzt durch die detailreiche Exposition der Protagonisten und ihrer visionären Vorgeschichten, findet danach jedoch ihren spannungsreichen, narrativen Rhythmus voll packender Körperlichkeit.
Gestützt auf eine kühne Musikmontage (von nordischen Volksliedern, EthnoPop – Richard Wagner bis Rammstein) präsentiert das Tanzepos rasant kontrastierende Szenen von bezwingender Aussagekraft, die nahtlos – wie im Schreittanz der höfischen Königspaare, gebrochen durch die Vergewaltigung Brunhilds – ineinander übergehen. Im Technorhythmus schlägt Siegfried auf das zuckende Gold ein; dessen Hüter Alberich unterliegt im Zweikampf; Siegfried gewinnt die Tarnkappe. Besiegt weckt Alberich dessen Begehren nach Kriemhild; deren königlicher Bruder Gunther fordert als Gegenleistung die Eroberung der isländischen Königstochter Brunhild. Ein Agreement der Täuschung. Mit den auf Stoffbahnen applizierten Frauen-Bildern, die zu Schiffswänden geformt werden, stechen die Männer in See. Ein großartiges Bild!
Marc Wandsleb verkörpert einen Haudegen cooler Egozentrik, für den es keine Grenzen gibt. Im Crescendo der rhythmischen Schläge zerfällt der Drache in seine Einzelteile; Siegfried badet im Blut der Unsterblichkeit und gewinnt für Gunther die Schlacht. Zu zarten Lautenklängen gibt sich Kriemhild (Stefanie Ringler) dem Schlächter hin. Siegfried jagt die kampfstarke Amazone Brunhild (Nicola Clarissa Gehring) und legt sie wie ein Stück Fleisch in des tumben Gunthers Arme. Entsetzt blickt die Geraubte aus dem Schiffsheck; ihre brutale Entjungferung beruht erneut auf Täuschung.
Liebesverrat. Ahnungen – Kriemhild spuckt Blut, Hagen erkennt den Betrug und seine Chance durch Mord an Siegfried der neue Herrscher des Goldes zu werden. Hagen zwingt Alberich nieder; doch dieser bleibt Teil des tödlichen Plans.
Lars Scheibner entfesselt in den Gruppenszenen der Ritter und Clans eine explosive Dynamik destruktiver Kräfte. Frauen und Männer mit verbundenen Augen, roten Händen und Kampfschilden treiben sich gegenseitig zu wilder Schlägerei. Expressive Arme, Drehungen, Kampfsportexerzitien. Bewegungsverzögerung kippt in stampfenden Rhythmus; Frauen treiben Männer ins röchelnd wilde Gemetzel. Angeführt von Alberich rüsten bierheiße Kampfmaschinen zu Rammsteins Waidmanns Heil – die Kreatur Siegfried muss sterben. Hagens Speer durchbohrt Siegfried.
Bis in die starke Schluss-Szene wird Alberich listenreich seinem Gold nachjagen und die Verhältnisse am Hof von Worms zum Tanzen bringen. Philipp Repmann agiert lauernd (wie Gollum), wieselflink, akrobatisch im angewinkelten Handstand, drapiert die puppenhaft gelangweilte Ritterschaft, blendet Gunther und Siegfried mit den Bildnissen von Brunhild und Kriemhild, heizt die Begierden an und hetzt die Kontrahenten gegeneinander. Meuchelmörder Hagen (Axel Rothe) kann sich nicht reinwaschen, vergeblich rafft er das Gold, es entgleitet ihm. Inmitten der Gold-Derwische dreht Alberich als lachender Tod – Kriemhild hält das Schwert der Rache – das tödliche Spiel ist noch nicht zu Ende.
Eine Geschichte der Gier. Mehrfacher Betrug, mörderischer Rache, maßlose Selbstvernichtung. Ein Untergangsszenario – nicht vergleichbar und doch… Die Theaterwelt in Mecklenburg-Vorpommern ist in Aufruhr! Die von Kultusminister Mathias Brodkorb und Entscheidungsträgern in den Kommunen unterstützte Fusion zu einem „Staatstheater NordOst“ führt landesweit zu Spartenschließungen. Betrieben wird die Aushöhlung der gewachsenen Kulturlandschaft. Auch in Neustrelitz stehen durch die erneute ‚Fusion der Fusion‛ Künstler wie Zuschauer, trotz vieler Protest- und Unterstützungsbekundungen in den vergangenen Monaten, als Entmündigte im Regen. Die Zukunft der Deutschen Tanzkompanie, 1991 als privatrechtliche gemeinnützige Stiftung gegründet und seit 2010 Tochtergesellschaft der Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg/Neustrelitz mit jetzt vierundzwanzig Ensemblemitgliedern, hängt in der Schwebe. Würde der zweckgebundene Landeszuschuss von 950 000 Euro pro Jahr nach den jetzigen Plänen nicht mehr bewilligt, wäre dies das politisch verfügte Aus für die national und international erfolgreich tanzende Botschafterin Mecklenburg-Vorpommerns. Im Beschluss der Stadtvertretung Neustrelitz vom 12. Mai 2015 heißt es: „Wir nehmen das Papier der Landesregierung zur Kenntnis. Wir sind weiter gesprächsoffen. Der Pauschalzuschuss für die DTK ist zweckgebunden zu erhalten“.
Umjubelt von den Zuschauern interpretiert die DTK ein spannendes Untergangsszenario. Ihrem eigenen Untergang entgegen tanzt das potente Ensemble hoffentlich nicht!
Wieder am:
19.9. + 16.10.2015 Schauspielhaus Neubrandenburg, 19.30 Uhr
2.10.2015 Landestheater Neustrelitz
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