Analphabeten zwischen Angst und Auflehnung

Clébio Olivieras „XXX – ein Versteckspiel“ beeindruckt im Dock 11

In sinnträchtigen und poetischen Bildern erzählt Clébio Oliveira von der Situation für Analphabeten.

Berlin, 02/04/2016

Mut hat er, dieser Clébio Oliveira. Und ein soziales Gewissen offenbar auch. Denn die meisten seiner Stücke verhandeln, wie er es ausdrückt, unsichtbare Themen: Blindheit, gestörte eigene Körperwahrnehmung, emotionale Abhängigkeit. Äußerlich sieht man den Betroffenen ihr Leiden nicht sofort an, innerlich aber tragen sie oft schwer daran. Auch Analphabeten bilden eine der gern verleugneten gesellschaftlichen Randgruppen. Ihnen widmet der junge Brasilianer, mehrere Jahre Mitglied in der Kompanie von Toula Limnaios, seine jüngste Produktion. „XXX – ein Versteckspiel“ visualisiert das heikle Thema anhand dreier Personen, drei, die möglicherweise ihre Unterschrift mit einem X leisten und auch im Umfeld ein verängstigtes X sind. Thurid Peine hat dafür ein imposantes Bühnenbild entworfen, das den kahlen Raum im Dock 11 zu einer sinnlichen Theaterwelt werden lässt.

Vor einer blau bestrahlten Wand aus gegeneinander versetzten Kartons sitzen, Rücken an Rücken, ebenfalls auf Kartons zwei Gestalten, jeder unter seinem Regenschirm. Als sie zu Klavier sich rutschend fortbewegen, wirken sie wie isolierte Inseln in einem Ozean. Die Frau besteigt ihren Karton, was sie noch mehr isoliert, bis sie ausschreiten will. Da schieben ihr der Mann und eine weitere Frau jeweils Kartons unter den Gehfuß. So wird ein Weg zwar möglich, doch hält nicht jeder Karton dem Gewicht stand: Die Gehende bricht ein, muss aufgefangen und gestützt werden. Ihr unselbstständig tastendes Fortkommen erinnert an den schweren Gang des Schwanes an Land im Rilke-Gedicht. Bisweilen trägt der Mann kurz die Frau, gibt ihr Geborgenheit, setzt sie wieder ab, ebnet den Weg. Allmählich lernt sie, über die unsicheren Kartons zu steigen, findet auf dem brüchigen Grund ihres Lebens Halt. Das so sinnträchtige wie poetische Bild, das Clébio Oliveira für die Situation von Analphabeten gefunden hat, kulminiert in einer solidarischen Gruppierung des Trios auf Kartons.

Dann aber schäumen Aufbegehren und Aggression auf: Der Mann läuft gegen die Kartonwand Sturm, bringt sie zum Einsturz, Pulver rieselt, die sorgsam gefügte Welt versinkt im Chaos. Unartikulierte Schreie gellen, Kartons werden geschoben, das Austricksspiel, wer einen Sitz abbekommt, fängt an. Der Mann schiebt die Balancierende auf einer Kartonreihe an die Wand, die zweite Frau zieht fix Kartons weg, bis der Zusammenprall unvermeidlich wird.

Im nächsten Bild rast die ehemals Balancierende wie blind mit einem Stapel unlesbarer Bücher vor dem Gesicht umher, während die Andere, um die Panik zu vergrößern, Autorennamen von Homer bis Kafka ruft – das, was einem nicht Lesekundigen verborgen bleiben muss. Das treibt die Läuferin, dann beide Frauen in den Sturz, bis sie einander erregt mit den Büchern traktieren, unlesbare Literatur aus Angst zum gefährlichen Wurfgeschoss wird. Der Sitz auf dem Karton unterm Schirm wird vorübergehend zur stillen Zuflucht. Daraus entwickeln sich parallele Szenen: das Solo der tobenden Balanciererin und ein Duett, in dem der Mann die verzweifelten Ausbruchsversuche der anderen Frau wild behindert, sie zur willfährigen Marionette macht. Klavier, das sich über die schmiegsame elektronische Collage von Matresanch legt, treibt das Geschehen an. Alle Wut richtet sich gegen die noch stehenden Reste der Wand aus den Kartons für – vielleicht – Bücher.

Dann schlägt die Situation radikal um. Fröhlich fahren die Akteure auf Kartons wie auf Scootern, werden redselig, wollen hübsch, reich, lecker, Fidel Castro oder Angela Merkel sein, sind aufgekratzt und überdreht wie in einer TV-Show. Mag sein, dass sich Träume von einer Teilhabe am ‚normalen’ Leben hier Bahn brechen; der ernsten Thematik gerät dabei dennoch etwas viel Flitter ins Getriebe. Der Choreograf fängt den Slapstick geschickt ab: Vereinzelt enden die Tänzer wieder unter ihren Schirmen, ein Ausweg ist vorerst nicht gefunden. Aufmerksam haben Clébio Oliveira und seine ausdrucksstarken Partnerinnen Valentina Migliorati und Michela Rossi auf das Problem allemal gemacht und es zu einem eindringlichen Stück Tanztheater geformt.

Bis 3.4., 19 Uhr, Dock 11, Kastanienallee 79, Prenzlauer Berg
 

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