Just (don’t) be yourself!
Buchrezension zu Antje Velsingers „The Bodies We Are (Not)“
Bücher, über die man spricht und mit denen man arbeitet, flechten sich ein in den Kanon der Werke, die zur diskursiven Grundausstattung eines Fachs gehören. Dass dieser Kanon höchst wandelbar ist, zeigt sich spätestens dann, wenn Titel, die zum Inventar des eigenen Studiums gehörten, heute nicht einmal mehr unter ferner liefen genannt werden. Die materialistische zweibändige Untersuchung Rudolf zur Lippes über die „Naturbeherrschung am Menschen“, die 1974 erschien und in den 1980er Jahren zum Studienbuch der Theaterwissenschaftler avancierte, wäre so ein Fall (was eigentlich verwundert, denn diese „Körpererfahrung als Entfaltung von Sinnen und Beziehungen“, so der Untertitel, rekurrierte auf Körperlichkeit, bevor diese zum Modethema avancierte). Auch der vergnügliche Klaus Theweleit, ein nicht-institutionalisierter Denker, der damals über Körper, Macht und ästhetische Regime schrieb, ist nicht mehr Teil eines Kanons – oder Diskurses.
Constanze Schellow untersucht in ihrer als beste Doktorarbeit der philosophisch-historischen Universität Bern gekürten Dissertation die »Diskurs-Choreographien«, wie sie in der zeitgenössischen Tanzwissenschaft aufgeführt werden. Sie entschied sich für den Diskursbegriff von Michel Foucault (ergänzt um theoretische Überlegungen von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe), den sie in aller gewünschten Klarheit rekonstruiert und für ihre Untersuchung fruchtbar macht. Schellow braucht die „Betonung der Materialität, der machtanalytischen Dimensionen und der artikulatorischen Produktivität eines nicht kommunikationstheoretisch auf Sprechen und Sprachlichkeit reduzierbaren Konzeptes“ (67), um die untersuchten Konzepte und Termini „nicht nur im Kontext aktueller Entwicklungen im Tanz, sondern vor allem in der und für die Tanzwissenschaft als Feld eines heute als akademische Disziplin institutionalisierten Reflektierens über Tanz zu ermitteln“ (19). Im Zentrum dieser Untersuchung stehen die Begriffe der „Negation, Negativität und Absenz“ (19); ihr Untersuchungsgegenstand sind mithin „Denkbewegungen des ‚Nicht’“, die zeitgleich auftreten mit dem „Aufkommen der Kategorie ‚Nicht-Tanz’“ (27). Also seit den 1990er Jahren. Damit fokussiert Schellow wichtige Themenfelder, aber auch Dilemmata der Tanzwissenschaft im Vorfeld und bei ihrer Institutionalisierung und bündelt sie zu einer Selbstreflexion der Regularitäten dieser wissenschaftlichen Praxis.
Das Herzstück und mit rund 80 Seiten den gewichtigsten Teil der Arbeit bildet die Untersuchung von vier Monografien, die sich auf ein gemeinsames Korpus von Choreografen und Stücken beziehen und mit Begrifflichkeiten ex negativo argumentieren: Helmut Ploebsts 2001 im K. Kieser Verlag veröffentlichter Band „no wind, no word“, Pirkko Husemanns Book on Demand „Ceci est de la danse“, Andre Lepeckis bei Routledge herausgebrachter Titel „Exhausting Dance“, der wie Gerald Siegmunds bei transcript publizierte Habilitation „Abwesenheit“ 2006 erschien. Alle vier behandeln – neben anderen – an zentraler Stelle Arbeiten von Jérôme Bel und Xavier Le Roy, drei von ihnen auch Meg Stuart. Eingelassen ist dieses Kapitel zwischen einer der Einleitung folgenden Problematisierung des Diskursbegriffs im Allgemeinen sowie im tanzwissenschaftlichen Diskurs im Besonderen und der Situierung des ‚Nicht’-Diskurses der Tanzwissenschaft in Abgrenzung zu anderen Disziplinen. Inwiefern Negation, Negativität und Absenz positiv konturierend für die Disziplin der Tanzwissenschaft gelten können, arbeitet Constanze Schellow in ihren close readings unter je veränderter Perspektive in allen drei Hauptkapitel heraus. Sie bezieht eine große Textmenge unterschiedlicher Provenienz (Aufsätze, Essays, Kritiken, Monografien) abschattierend und Problem orientierend ein, so dass sich bei der Lektüre ein Feld an Themen und Positionen eröffnet, das für interessierte LeserInnen einen Überblick und für TanzwissenschaftlerInnen einen diskussionsbefördernden Einblick in die Diskursmaschine eröffnet. Dabei sind die erhellenden Zwischenergebnisse letztlich spannender als das zusammenfassende Resümee: das heißt, noch einmal in genauer Abwägung ins Gedächtnis gerufen und vorgeführt zu bekommen, was Ploebst, Husemann, Lepecki und Siegmund verbindet und was sie unterscheidet, stellt sich für mich oft erhellender dar, als der finale Befund, dass es sich hierbei um „Abgrenzungsgesten gegenüber Theorien aus der Theaterwissenschaft und Performance Studies“ (197) und um die „Beanspruchung eines disziplinären Terrains“ (198) handelt. Dies scheint mir eine konventionelle Strategie im Wissenschaftsbetrieb zu sein. Sie im Detail zu rekonstruieren und kritisch zu konturieren ist ein Verdienst der Arbeit von Constanze Schellow.
Sie weist überzeugend nach, wie der tanzwissenschaftliche Diskurs das Desiderat einer tanzwissenschaftlichen Selbstreflexivität abbildet, und verortet sich als Wissenschaftlerin mit der gebotenen Deutlichkeit selbst im Diskursfeld. Als Doktorandin bei Christina Thurner in Bern, u. a. mit Lehraufträgen am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz Berlin, einem Postmaster-Studium unter dem Mentorat von Bojana Cvejic und Jan Ritsema, in einem ProDoc-Programm in Bern und Basel eingebunden und im Dialog stehend mit Krassimira Kruschkova, Hans-Thies Lehmann, Nikolaus Müller-Schöll, Gerald Siegmund und anderen ist Constanze Schellow an wichtigen Kulminationspunkten im bewegten und an Ein- und Ausschlussmechanismen reichen akademischen Diskursfeld unterwegs gewesen. Dabei strebte sie an, „sich an der Oberfläche des Diskurses zu halten“ (117), weder zu abstrahieren noch zu psychologisieren. Dadurch fallen jedoch institutions- und wissenschaftspolitische Zusammenhänge in Schellows Darstellung weniger ins Gewicht, als sie tatsächlich an Sprengkraft entfalten können. Das wäre ein weiteres Desiderat in der Aufarbeitung der Geschichte der deutschsprachigen Tanzwissenschaft und ein ergänzendes Kapitel zu Schellows hervorragender Institutionengeschichte als Diskursgeschichte.
Constanze Schellow: Diskurs-Choreographien. Zur Produktivität des ›Nicht‹ für die zeitgenössische Tanzwissenschaft, München (epodium) 2016, ISBN 978-3-940388-48-3, 29,00 €
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