Außen – innen - außen
Garry Stewart macht die Mainzer Tänzer konsequent zum „Objekt“
Erster Kammertanzabend im denkmalgeschützten Theater Adlershof in Berlin
Wie ein architektonischer Solitär steht das Theater Adlershof unweit des S-Bahnhofes Adlershof und dennoch auf weithin noch unbebautem Grund. Hell und licht wirkt es mit seiner renovierten, an der Funktionalität des Bauhauses geschulten Fassade, lädt zum Betreten ein und enthält im Parterre, dem Empfangsbereich, Garderobe und Casino. Dort gibt es auf einem Podium ab und an Kleinkunst mit Barbetrieb. Im zweiten Geschoss aber findet sich die eigentliche Bühne. Auch sie ist dem 150 Quadratmeter messenden Raum eher abgerungen, denn eigentlich hat dort seit 2007 das Ballett- und Pilatesstudio art changé sein Domizil. Gegründet hat es Kathrin Schülein, eine couragierte Tänzerin mit Ausbildung in der Palucca Schule Dresden und dem Ballett des einstigen Metropol-Theaters als letztem Arbeitsplatz. An sechs Tagen der Woche bietet sie Unterricht in Klassischem Tanz, Kindertanz, Jazzdance und Pilates an.
Das jedoch reicht der auch choreografisch ambitionierten Leiterin nicht. Sie möchte nicht nur ihren Tänzern, sondern vor allem den Anwohnern Theater in seinen vielen Formen offerieren. Was mit Schauspiel und Kleinkunstprogrammen schon funktioniert, soll nun verstärkt auch auf den Bereich Tanz ausgeweitet werden. Denn, so Kathrin Schülein, der Weg von hier ins Berliner Zentrum mit seinen Musentempeln ist weit, das Parken dort ein leidiges Problem, im Gegensatz zum Theater Adlershof. Erste erfolgreiche Versuche seit 2012, in die Produktionen auch Tanz einzubeziehen, nannten sich „Weihnachtschaos“ nach Tim Burtons Film „Nightmare before Christmas“, „Väterchen Frost“, „Die Russische Seele“; Silvester 2016 wird das Theater sogar zum „Weißen Rössl“. Zuvor jedoch hat sich Kathrin Schülein einen Traum erfüllt: den ersten Kammertanzabend. „Auf die Spitze getrieben“ heißt er und lautet im Untertitel nicht von ungefähr „Eine Reise durch die Sprache des Tanzes“.
Gemütlich sitzt man dazu vor dem Bühnenpodest und ganz nah am Geschehen, was auch den je zwei Tänzerinnen und Tänzern, allesamt mit abgeschlossener Berufsausbildung an namhaften Schulen, ungewöhnliche Aufgaben stellt. Bis auf wenige Einspielungen vom Band werden sie von Daniel López live am Klavier begleitet, wenn sie sich quer durch die unterschiedlichen Stile tanzen. Vom Walzer aus „Dornröschen“ auf Spitze als festlichem Entree über filigrane Miniaturen zu Musik von Chopin reicht das, bis zum feurigen Paso doble als Finale des ersten Teils. Dass Choreografin Schülein als charmante Moderatorin Wissen über die Entwicklung vom Ballett hin zu modernen Ausdrucksformen auffächert, hilft besonders Zuschauern, die sich den Tanz gerade erobern wollen, und fügt dem unterhaltenden einen bildenden Aspekt an.
In Teil zwei lässt sie, verständlich bei einer Ex-Tänzerin aus der Operetten- und Musicalhochburg Metropol-Theater, ihrer Liebe zu showhaftem Tanz freien Lauf. Von einer eigenen Version des „Sterbenden Schwans“ als klassischer Reminiszenz geht es zum dramatischen „Mörder-Tango“, einem spritzigen Charleston und, als Finale, zu „Palladio“. In diesem sprühenden Quartett, dessen Musik von Karl Jenkins den italienischen Renaissance-Architekten feiert, kann sich Choreograf Joseph Stewart gemeinsam mit seinen vielseitigen PartnerInnen Raphaela Kühl, Laura Reuss und Nils Freyer auch als Tänzer in bestes Licht setzen. Zwischendrin hat Daniel López mit einem Schubert-Impromptu und Beethovens „Mondscheinsonate“ Gelegenheit, seine pianistischen Qualitäten auszustellen.
Diesem Debütabend sollen nach Schüleins Willen weitere Projekte folgen, möglichst auf einer größeren Bühne. Denn das Haus birgt noch ein attraktives Geheimnis. Als es 1952 von Franz Ehrlich, einem Meisterschüler am Bauhaus Dessau, fertiggestellt wurde, diente es dem Deutschen Fernsehfunk zunächst als Theater zur Aufzeichnung hauptsächlich von Opern. Außer dem Parkett verfügte es über einen Rang, hatte rund 500 Plätze und dürfte das einzige Fernsehtheater Deutschlands gewesen sein. Um 1960 wurde der Theatersaal entkernt, das Bühnenhaus mit seinem Schnürboden durch Einziehen einer Zwischendecke verschlossen und das Haus in ein Fernsehstudio umgewandelt. Bis zum Ende des Deutschen Fernsehfunks wurde von hier aus die DDR-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ ausgestrahlt. Nach der Wende wechselte das Haus seine Besitzer, ging an das Land Berlin über, wird heute treuhänderisch von einer Projekt GmbH verwaltet – und steht seither zum Verkauf.
Hier nun kommt Kathrin Schülein, Mieterin des sanierten Kopfbaus, erneut ins Spiel. Sie möchte mit Hilfe von Sponsoren den maroden Hinterbau wieder zu einem Theater mit Spielbetrieb machen. Das bietet sich umso mehr an, als der frühere Fernsehstandort Adlershof nach längerer Dämmerung als Brache, derzeit einen Boom erlebt: mit über 1500 angesiedelten Unternehmen, Forschungseinrichtungen, Instituten der Humboldt-Universität und dem Bereich Media City. Mit bereits vorhandenen und künftigen Anwohnern kommt Schülein auf mehr als 250.000 Menschen, die für Kunst interessiert werden können. In Zeiten von Theaterschließungen fühlt sie den Mut zum Risiko: zum Mehrspartenbetrieb im dann ausgebauten, dem wirklichen Theater Adlershof. Die Reaktion der Premierengäste des Kammertanzprojekts lässt auf den Wunsch nach weiteren Theatererlebnissen schließen. Das würde nicht zuletzt auch einem vergrößerten Ensemble Einsatzmöglichkeiten und dem Bühnentanz, unabhängig von den Entwicklungen beim Staatsballett Berlin, eine stabile Basis bieten. Zahlreiche Unterstützer des Projekts gibt es bereits!
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments