Das Außergewöhnliche im Moment
Ein Fotoblog von Dieter Hartwig
Im Dock 11 verteidigen Kolumbiens Misak ihre kulturelle Identität
Die Sitztribüne im Dock 11 ist etwas zur Szene hin vorgezogen, dahinter stehen ein Rundzelt aus Holzrosten und mit Gräserdach sowie mehrere Kisten voller Erde. Ein Gefühl naturverbundener Dörflichkeit stellt sich ein, zumal auch die Bühne bedeckt ist mit Erde. Beschaulich aber beginnt das Gastspiel der seit fünf Jahren agierenden Hidden Tracks Company nicht. Denn Regisseur Philip Gregor Grüneberg zitiert mit Stentorstimme von oben herunter aus einer Anhörung vor dem Bundestag: Experten, alles Deutsche, verteidigen das Freihandelsabkommen zwischen Europa, Peru und Kolumbien. Vertreter jener Andenländer wurden nicht gehört, massive Proteste in Kolumbien knüppelte die präsidiale Polizei nieder. Seit 2013 gilt das Abkommen – mit verheerenden Folgen etwa für Kolumbiens Bauern, die ihre Höfe schließen müssen. Europas subventionierten Einfuhren halten regionale Produkte nicht stand. Auch die Menschenrechte werden in dem Andenstaat, entgegen den Beteuerungen der Regierung, nicht eingehalten: Missliebige Gewerkschafter und Aktivisten werden erschossen, weshalb damals DIE LINKE im Europaparlament gegen das Abkommen gestimmt hatte.
Auch die Lage der indigenen Völker Kolumbiens ist prekär. In der Tanzperformance „EXIT: Humanity“ verschaffen sie sich zwei Stunden Gehör. Vier Angehörige der Misak, einer Gemeinschaft im Norden des Landes, haben sich dazu mit drei kolumbianischen Tänzern zusammengetan, von denen einige an der Folkwangschule Essen Zeitgenössischen Tanz studiert haben. Mit leerer Gestik illustrieren sie das Phrasengedresch der deutschen Experten, wenn es gebetsmühlenhaft um Wachstum, Arbeitsplätze, steigende Lebensbedingungen dank neuer Warenströme geht – verräterisch untermalt durch Technobeat. Leise ziehen zu Panflötenspiel die Misak auf, weihen den Saal, erläutern ihre Riten. In drei Gruppen lassen sie die Zuschauer am dörflichen Alltag Anteil nehmen. Mais und Bohnen werden gemeinsam gepflanzt, die puya genannte Rundhütte mit Lehm abgedichtet, drinnen braut man das beliebte Maisbier chicha. Im dritten Raum umsitzt man das Herdfeuer fogón, Zentrum des familiären Beisammenseins, und lauscht vom Band der Stimme des Großvaters: Ob er rechtens der heimischen Ausbildung für die Kinder das Wort redet und gegen das staatliche Schulsystem plädiert, darf man anachronistisch finden. Ponchos herstellen, Sombreros flechten, etwas über Aussaat und Krankheitsheilung wissen sowie das herkömmliche Rollenspiel von Mann und Frau – würde das der Jugend eine Zukunft weisen?
Aus abstraktem, teils an ländlichen Verrichtungen orientiertem Tanz entwickeln sich dann Schritte der fließenden Andenfolklore mit ihren leichten Hüpfern. Gefasst oder eingehakt kommt man sich dabei fröhlich näher. Zweimal wird der Tanz durch Spiele unterbrochen: Das Publikum wird hierzu auf den erdbestreuten Marktplatz gebeten, darf über vorab verteilte Kärtchen Erde und Wasser tauschen, in der zweiten Runde dann über das Medium Gold kaufen. Wenn die Akteure aus Kolumbien tanzend über die heimatliche Erde ziehen, beschwören sie den Geist ihrer Ahnen und der Natur, verweisen so auf ihr Verwurzeltsein zwischen Boden und Himmel. Überaus liebenswürdig tun sie das und werben beim Publikum um Verständnis für ihre Kultur. Am Ende jedoch werden sie ernst, wenn sie Missbrauch ihrer Werte anprangern.
Als fast heiligen Akt legen sie mit ausgiebigen Erläuterungen ihre traditionelle Kleidung an, Wickelrock und Poncho für die Männer, Rock, Bluse, Tuch und gleichfalls Sombrero für die Frauen. Als aber zu Technogetöse Mode gezeigt wird, die einzig Attribute jener Folkloretrachten benutzt und damit entweiht, verwahren sich die Misak zornig gegen jede modische Okkupation ihrer uralten Kultur. Weder Mestizen noch Ausländer haben ein Recht dazu, appellieren sie an die Welt und fragen: Wie haben wir all die Vernichtungsfeldzüge überlebt? Mit sanftem Tanz um ländliche Tätigkeiten, Saat und Ernte, klingt liebenswert ein dennoch aufrüttelndes Plädoyer für die kulturellen Traditionen von Minderheiten aus. Was 2015 in Bogotá uraufgeführt wurde, klärt nach der Berliner Spielserie in einer Bochumer Zeche auf.
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