„Seid was ihr wollt“ von Massimo Gerardi
„Seid was ihr wollt“ von Massimo Gerardi

Ein alter Bekannter in neuem Stück

Pick bloggt über Klaus Kinskis Stimme in Massimo Gerardis „Seid was ihr wollt“ und was ihm sonst noch aufgefallen ist bei TanzArt ostwest in Gießen

Selbst erlebt hat er ihn vor vielen Jahren und so bringt die neue Begegnung mit Klaus Kinskis Rezitationen auch alte Erinnerungen hervor.

Gießen/Eupen, 09/06/2017

Dieses Festival endet nicht, wenn es in Gießen über die Bretter, die die Welt bedeuten, gegangen ist, sondern ein Teil der Mitstreiter oder besser -performer zieht weiter. Dieses Jahr zuerst nach Eupen in Belgien und am kommenden Wochenende nach Koblenz.

Aus den Anfängen eines jungen ambitionierten Ballettchefs in Halberstadt ist in den bisherigen 22 Jahren ein Organisator des Tanzes in all seinen Spielarten geworden. Auch die Oberbürgermeister machen ihm ihre Aufwartung und er bedankt sich artig; auch bei der Landesregierung, die wohl lieber im Staatstheater Wiesbaden zuschaut, wo wesentlich mehr Geld zu Kunst veredelt wird. Liegt es doch gleich neben der Spielbank, wo sie ohne Risiko auch Geld verdient, das dann für die Kunst wieder ausgegeben werden kann ...

Nach der enormen Leistung der Tanzcompagnie Gießen mit Stücken von Rui Horta, gefördert über den „Tanzfonds Erbe“ gab es einen herben Einbruch, denn eine Reihe von Tänzern dachte wohl, die große Welt braucht sie und Tarek Assam musste quasi neu anfangen. Aber zwei ganz besondere aus diesem Ensemble sind übriggeblieben: Magdalena Stoyanova und Sven Krautwurst, die sichtlich an Technik und Ausstrahlung gewonnen haben, auch wenn, oder vielleicht gerade weil die Konkurrenz aus dem Ausland bei TanzArt ostwest unübersehbar ist. Eben das ist auch eine gute Seite von Festivals. Kollegen kommen ins weniger bekannte Gießen und der sonst schmale Kontakt wird aufgefrischt und man sieht, was anderswo auf welchem Niveau getanzt wird.

In diesem Zusammenhang möchte ich wieder einmal darauf hinweisen, dass dem Tanz neben der Tanzplattform Deutschland, die fast ausschließlich die freie Szene repräsentiert, ein bundesweites Festival fehlt, so wie das Schauspiel es mit dem „Theatertreffen“ hat, das die Bundesregierung mit erheblichen (!) Mitteln finanziert. Nachdem nun Tarek Assam Sprecher der BBTK (Bund der Ballettdirektoren und Tanztheater Konferenz) wurde, erwarte ich mir neuen Wind in diese Richtung. Auch im Dachverband Tanz ist er Mitglied, dessen Sprecher Michael Freundt sich neulich laut zu den festen Ensembles bekannt hat, die der Dachverband (bis jetzt) unter ferner liefen vertritt!

Gott sei Dank muss ich nicht versuchen, den großen Bogen, den TanzArt ostwest dieses Jahr abdeckte, komplett zu repetieren, denn das hat schon Dagmar Klein sehr schön getan Movement never lies. Es dreht sich bei den Veranstaltungen ja nicht immer um ganze Stücke, sondern eher um „Mini-Galas“ mit Ausschnitten oder Kurzchoreografien in verschiedensten Stilrichtungen. Ich möchte allerdings kurz auf die diesjährige Premiere des Gießener Ensembles „Seid was ihr wollt“ eingehen, die Massimo Gerardi inszeniert hat, denn mit Choreografie ist es bei einem solchen Vorhaben nicht getan. Und er hat es genialisch angepackt und der Erfolg, obwohl für manchen sicherlich grenzwertig, gibt ihm recht.

Klaus Kinskis Rezitationen von François Villon in der Nachdichtung von Paul Zech sind der Kernpunkt des Stücks und bringen mich zurück zu meiner eignen Begegnung mit Kinski. Klaus Kinski tourte vor vielen Jahren durch die BRD, rezitierte die Klassiker Goethe, Schiller, aber auch Romeo und Hamlet, die ihm damals kein Regisseur als Rolle angeboten hätte. Aber seine Sprechtechnik war makellos und erstaunlich für einen gebürtigen Polen. Wenn die Situation des Gesprochenen es erlaubte, liefen ihm beim richtigen Satz die Tränen über die Wangenknochen. Aber er hatte auch inszenierte Ausbrüche, z. B. als jemand im Audi-Max der TH in Aachen leise hustete. Dann stieg er aus, brüllte aus Leibeskräften die Person im Dunklen an und drohte, er werde die Bühne verlassen und wir könnten ja den Rest fantasieren. Er sei sich jedenfalls zu schade, vor solchen Banausen seine Kunst durch Störungen vermasseln zu lassen. Ich war wohl 15 oder 16 Jahre alt und hatte so etwas nie erlebt, obwohl ich am Theater aushalf und der Ballettchef in Aachen, Peter Schnitzler, „ne kölsche Jung“, seine Tänzerinnen durchaus nicht zimperlich anbrüllte. Sonst aber war Schnitzler ein umgänglicher Theatermensch und ein erfolgreicher Tänzer und Choreograf.

Diese Erinnerungen stammen vom Anfang der sechziger Jahre, als im Adenauer-Rheinland die Kirche mit aller katholischen Frömmigkeit noch nicht „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund“ hören mochte. Ich las zwar heimlich Malapartes „Die Haut“ usw., aber mit François Villon war ich nicht in Berührung gekommen, was Kinskis nächste Attacke auf die Bürger war. Und wir waren begeistert. So auch jetzt in Gießen. Wir sind heute weiß Gott härtere Ausdrucksworte gewöhnt und doch lassen uns Villons Skurrilität und Zynismus nicht kalt.

Warum Massimo zu Beginn Sven Krautwurst als Transvestiten mit der Stimme vom Erdbeermund auftreten lässt, habe ich nicht verstanden, aber gefallen hat es mir, wie so vieles an diesem Abend, der sowohl Kinski gerecht wird, wie auch der musikalisch/elektronischen Unterlage, die gute Erholung von der Stimme mit sich bringt. Nach so vielen Jahren erinnere ich seine Stimme nicht ganz so scharf, aber das könnte vielleicht auch an den Einspielungen liegen. Ich werde meine Schallplatten mal wieder ausgraben müssen. Sowohl Sven als auch seine Gespielen oder sein Opfer geben sich offenbar diesem Spiel gerne hin, und wenn ich jetzt nicht vom Tanz reden würde, wäre das ungerecht, denn es gibt gute, spannende Choreografie – mal verspielt, mal richtig bösartig. Massimo ist noch nicht bei Hans Kresnik angekommen, aber auf dem besten Weg. Man könnte ihm auch mal vorschlagen, „Kriegsanleitungen für jedermann“ zur Vorlage zu nehmen für ein neues Stück!

Doch da war noch mehr, was mir an diesem Festival erwähnenswert erscheint. So gab es mit Yang Zhens „Minorities“ eine neue Querverbindung zum Festival „DANCE“ in München. Den Auftritt der Gruppe aus Peking habe ich in Gießen sehr genossen, aber ich bin nicht sicher, ob die Tänzerinnen sich in dieser Form in ihrem Arbeiter-, Bauern- und Kapitalisten-Staat zeigen können ... Dann ist mir noch eine sehr vielversprechende Choreografie „Doubletake“ von Gianni Cuccaro, der seit Jahren schon bei Gregor Zöllig in Osnabrück und in Bielefeld arbeitet, in Erinnerung geblieben. Zwei Männer verschiedener Generationen zeigt er in mehr oder weniger großen Schwierigkeiten. Ihre Beziehung zeichnet er gekonnt und das Stück ist sehr gut getanzt.

In der Abschlussgala gab es natürlich viel Ungesehenes, wenn auch nicht immer überzeugend. Aber es tat gut nach so vielen Stücken mit kleiner Besetzung mit der Tanzcompagnie Gießen und der Tanzcompagnie Konzert Theater Bern wieder an die 15 Tänzer auf der Bühne zu erleben. Ein Höhepunkt und schon fast das Ende dieses 15 Punkte umfassenden Programms in über drei Stunden war „Black Swan“ von Marco Goecke, getanzt mit der gefragten hohen Präzision von den Nachwuchs-Solisten des NRW Juniorballetts Tess Voelker und Nikita Zdravkovic.

In Eupen, wo ich, obwohl ich aus der Ecke stamme, noch nie war, sah ich noch die Compagnie Irene K. Sie war von Anfang an dabei, als TanzArt gegründet wurde und ich habe auch schon „Abgedrehtes“ von ihr gesehen, wie es ihre großen Mitstreiter in Brüssel und Antwerpen auszeichnet. Im neuen Kulturtempel im „Alten Schlachthof“ zeigte sie dieses Jahr in „Mains d‘or“ zwei außerordentlich vitale Tänzer Andrea Gallo-Rosso und Anaïs Van Eycken. Der ganze Auftritt war herrlich, wie der Vollmond auf der Rückfahrt der Gäste.

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