Ritual des neuen Mannes
„Lemniskata” von Lukas Avedaño feiert auf Kampnagel Europapremiere
Es sind nur gut 50 Minuten, aber die haben es in sich. Mit „Für mich“ hat Antje Pfundtner ein wichtiges Stück für zwei Tänzerinnen und einen Tänzer geschaffen, das sich beileibe nicht nur – aber sicher vor allem – an ein junges Publikum im schwierigen pubertären Alter zwischen 14 und 17 Jahren richtet. Sie greift darin Fragen auf, die man sich insbesondere in dieser Zeit stellt, wo das Leben verheißungsvoll vor einem liegt, aber auch die Sicherheit der Kindheit schmerzlich verlorengeht. Antje Pfundtner befragte kurzerhand circa 30 Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 15 Jahren, was sie so umtreibt. Gemeinsam galt es, Standpunkte zu definieren, auch begleiteten die Jugendlichen die gesamte Kreation als Dialogpartner*innen und Feedback-Geber*innen. Das Stück entstand als Teil von „explore dance – Netzwerk Tanz für junges Publikum“ bei K3 | tanzplan Hamburg auf Kampnagel in Kooperation mit fabrik moves, Potsdam, und Fokus Tanz/Tanz und Schule e.V., München. „Explore dance“ lädt etablierte Choreograf*innen ein, in allen drei Städten insgesamt 18 neue Stücke für ein junges Publikum zu entwickeln und dieses vor allem an die Kunstform Tanz heranzuführen.
Um es kurz zu machen: Es hat sich gelohnt. Herausgekommen ist ein von Anfang bis Ende für alle Generationen hochspannendes Werk. Denn die zentrale Frage, die Antje Pfundtner Jugendlichen gestellt hat, betrifft auch noch Menschen mit 25, 45 oder 65 Jahren: „Was wirst Du nicht genug gefragt?“ Die Antworten, die sich bei den Jugendlichen daraus ableiteten, prägen den Verlauf des Stücks.
Schon während das Publikum die Plätze einnimmt, geht es los: Zwei Personen in roten Trainingsanzügen, am Hals miteinander „verhakt“, wälzen sich auf dem weißen Tanzboden. Ob es zwei Frauen oder Mann und Frau sind, lässt sich erst mal nicht erkennen. Ein Teil des hinteren Bühnenraums ist durch einen raumhohen weißen Vorhang abgetrennt, der sich immer mal wieder anders einfärbt: rot, grün, gelb, lila, blau. Nach einer Weile trennen sich die beiden Personen, und man sieht: Es sind Frau (Antje Pfundtner selbst) und Mann (Nobert Pape). Antje Pfundtner beginnt, Befindlichkeiten im Publikum anzusprechen: „Wer von euch gerade traurig ist, balle die Hand zur Faust“, „Wer gerne die Zeit anhalten möchte, lege die Hände auf die Knie“, „Wer mit seiner Frisur nicht zufrieden ist, schlage die Beine übereinander“, „Wer sich mehr Mut wünscht, beiße sich auf die Zunge“ oder „Wer von euch nicht mehr zuhause leben möchte, halte die Luft an“ und diverses andere mehr, jeweils verbunden mit einer eindeutigen Geste. Und sofort geht es weiter mit einem rasend schnellen Wechsel von Antworten „aber ja, aber nein“ mit immer wieder anderen ambivalenten Gesten und rasant wechselnden Schrittfolgen. Großartig!
Norbert Pape erzählt von seiner Großmutter, die ihn nie hat tanzen sehen, jetzt tanzt er für die Kinder und Jugendlichen. Er schiebt den Vorhang beiseite, und eine weitere Tänzerin (Juliana Oliveira) tritt auf. Sie und Antje Pfundtner stülpen sich Langhaarperücken über – Nobert Pape braucht das nicht, seine Haare sind sowieso lang genug. Es folgt Headbanging vom Feinsten zu wummernden Sounds (Musik: Sven Kacirek), abgelöst von Ganzkörperzittern, Sprüngen, Hüpfen, Kreiseln.
In dieser Art geht es weiter. Es ist ein bunter Wechsel von Stimmungen, Haltungen, Meinungen, von kreativen Bewegungsabläufen – alleine, zu zweit, zu dritt. Das Publikum – bei der Premiere in Hamburg waren es eine 5. und eine 7. Schulklasse – geht begeistert mit.
Mit einem Schlag auf einen Buzzer im Hintergrund setzt Techno-Musik ein, und Norbert Pape beginnt, wild darauf zu tanzen, was sofort einige der Kinder animiert, selbst mitzumachen. Immer wieder geht es um Alternativen, die sich stellen: zusammenbleiben oder auseinandergehen? Ja oder nein? Was ist peinlich: Der Anblick, wenn sich Antje Pfundtner und Norbert Pape dicke Wulstlippen-Masken einsetzen? Eine Berührung? Lautstarkes Rülpsen? Spannend, wie sich dabei die Interaktion mit dem Publikum entwickelt, aber auch die der Tänzer*innen untereinander. Bis zum Schluss Antje Pfundtner den Arm ganz hoch in die Luft reckt, ganz laut „Jetzt“ sagt, und das Licht verlischt – Abschluss und Aufforderung zugleich.
Es ist ein Stück, dessen Impulse sich wunderbar in Schulklassen übertragen lassen. Dazu gibt es für Lehrer*innen gut zusammengestelltes, informatives Begleitmaterial. Interessierte wenden sich an Ann-Kathrin Reimers von der Projektleitung exlore dance (per Mail: ann-kathrin.reimers@kampnagel.de oder telefonisch unter 040-270 949-50). Erstmal tourt das Stück jedoch in die beiden an der Produktion beteiligten Städte Potsdam und München und kommt dann im Rahmen des „Festival Tanz für junges Publikum“ Anfang Mai nochmal auf Kampnagel zurück. Nicht verpassen!
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