Zum Abschied
Letztes TanzArt ostwest-Festival in Gießen
Zum 15. Mal fand in Gießen das TanzArt ostwest Festival statt. Ballettdirektor Tarek Assam hatte es bei seinem Start in die Lahn-Stadt mitgebracht und es kontinuierlich ausgebaut. Die Strukturen haben sich entwickelt und gefestigt: beginnend mit der Site-Specific-Performance eines Gastchoreografen, über begleitende Ausstellung(en), die Premiere des neuen Studiobühnenstücks der Tanzcompagnie Gießen und deren aktuelles Tanzstück für die große Bühne, bis zu den drei Abenden mit Präsentationen von Tanz(hoch)schulen und der freien Szene auf der Studiobühne, bis zum großen Highlight, das am meisten Publikum zieht, die Tanz-Gala im Großen Haus.
Nachhaltig beeindruckend war das Solo der Italienierin Olimpia Fortuni (auch Choreografie), die sich mit dem Zustand unserer Welt befasste. Das reichte vom Street-Gang-Kapuzen-Anonymus über den Zähne bleckenden Affenprimaten im Zoo bis zum Gewalterlebnis in dunklen Straßenecken. Am Ende kriecht und schreitet sie am hinteren Bühnenrand entlang, ihr nackter Körper überlagert von einer riesigen Video-Projektion, die sich von zugebauten Städten über karge Landschaften bis ins Weltall vorarbeitet.
Stark vertreten war die Tanzszene Köln. Marje Hirvoonen thematisierte in „Fame“ den Wahn der Selfie- und You-Tube-Generation, unbedingt berühmt zu werden. Echten Applaus erlangte sie jedoch in schlichter Aufmachung, ohne visuelles oder musikalisches Aufmotzen, einfach mit Gesang pur. Beeindruckend das Duo Geraldine Rosteius und Mr. Shirazy. Die beiden schufen in „Metanoia“ eine ganz eigene Atmosphäre, er als Musiker mit Synthesizer-Gitarre und spanisch rauem Gesang, sie als außergewöhnliche Tänzerin. Auch bei ihnen ist das Thema Kritik an der Über-Technisierung unserer Welt, ihre Zurück-zur-Natur-Variante inszenieren sie im African Dance-Groove.
Für Humor getränkte Ernsthaftigkeit sorgte wieder Susanna Curtis aus Nürnberg, diesmal zusammen mit David Bloom (Berlin) im gemeinsam entwickelten Stück „Na Puste!“. Die beiden stellen Rollenzuschreibungen an Mann und Frau komplett auf den Kopf: Mit ihrem Kurzhaarschnitt gibt sie den rauen Typen, er mit langen Lockenhaaren und Bart gibt das anschmiegsame Mädchen. Aus den Niederlanden kam der ungewöhnliche Beitrag „Lostbox“, bei dem die Tänzerin ihren nackten Rücken in einer Kiste präsentiert, darauf projiziert werden Worte mit aufforderndem und suggestiven Charakter wie „Come and touch“. Das Oben und Unten des Körpers geht in der Wahrnehmung verloren, aus dem bloßen Stück Haut wird ein Sensorium für Berührungen.
Bemerkenswerte Solos zeigten noch: Kelvin Kilonzo, der bereits am ersten TanzArt-Abend in einer Duo-Performance mit dem Improvisationsmusiker Pablo Giw aufgetreten war; er hat eine auf den Körper und seine Binnenbeweglichkeit fokussierten Ansatz. Während Paolo Fossa, seit Jahren auch Trainingsleiter bei der TCG, eine pantomimisch gestützte, anrührende Suche nach dem Kind im Mann zeigte. Als letzte war die Compagnie Irene K. (Eupen) zu sehen, kontinuierlicher Gast seit der ersten TanzArt ostwest 2003. Diesmal zeigten sie mit dem Duett „Mains d’Or“ einen Ausschnitt aus einem Stück zur industriellen Vergangenheit Belgiens. Inhaltlich waren Angst und Verunsicherung, stilistisch viele, sehr schnelle Hebefiguren zu erleben.
Die Tanz-Gala im Stadttheater war zum großen Teil begeisternd. Die Mischung aus neoklassischem Ballett und zeitgenössischem Tanz in vielen Variationen ist ein Erlebnis. Wie gewohnt gab es Auszüge von bekannten Choreografen und von neuen Teilnehmern. Traditionelle Sehgewohnheiten wurden ebenso bedient wie Neues erprobt. Die geografische Spanne reichte international von Südchina bis Brasilien, von Südfrankreich über die Schweiz bis Tschechien. Aus Deutschland waren Vertreter von Theatern in Koblenz bis Chemnitz, von Bremerhaven bis Augsburg gekommen.
Die Klammer des langen Tanzabends war der „Folkwang-Stall“, wie Tarek Assam in seiner Moderation augenzwinkernd sagte. Den Anfang machte eine Szene aus „Auftaucher“ (1999), das Henrietta Horn selbst mit der Tanzcompagnie Gießen einstudiert hatte. Und den Abschluss machte das aktuelle Stück von Susanne Linke, „Hieronymus und der Meister sind auch da“, das sie mit ihrer Gruppe am Theater Trier entwickelt hat. Susanne Linke hatte ihre Gruppe nach Gießen begleitet, denn deren Auftritt war so ziemlich der letzte. In Trier will man andere Wege gehen. Assam bat die „lebende Legende“ auf die Bühne und um ihr Wort. Ein Hauch Tanzhistorie wehte durch die Reihen des ehrwürdigen Stadttheaters Gießen, das 1907 in einer besonderen Jugendstil-Architektur eröffnet worden war. Die einstige Leiterin der Folkwang-Studios in Essen ist neben Pina Bausch die bekannteste Vertreterin aus der Folkwang-Schule. Schon Ende der 1970er Jahre war die Tänzerin als „Botschafterin des deutschen Tanztheaters“ weltweit unterwegs. Als Choreografin schuf sie mit „Ruhrort“ (1991) ein Fanal für das Ruhrgebiet, das in den vergangenen Jahren am Schauspielhaus Bochum wieder aufgenommen wurde. Es folgten viele weitere Arbeiten.
Wie immer waren viele Pas de deux dabei, von der klassischen Balkonszene aus „Romeo und Julia“ aus Chemnitz (Choreografie: Luciano Cannito) über ein freches, sehr heutiges Duett aus Bremerhaven (Sergei Vanaev) bis zu einer temperamentvoll brasilianischen Variante (Laura Avila & Gleidson Vigne). Zwei, die schon Gastchoreografen in Gießen waren, brachten neue Arbeiten. Pascal Touzeau hat in Bordeaux eine neue Gruppe gegründet, deren Stück „Labyrinth“ nicht nur mit der bunten Unterwäsche samt Socken an die Tanzsprache von William Forsythe erinnerte. Von Guido Markowitz, der jetzt Ballettdirektor in Pforzheim ist, kam die ungewöhnlich dynamische Interpretation des Mozart-Requiems. Die größte Überraschung bot die Yate-Artistengruppe aus Shenzhen, die im aktuellen Stück „Cross!“ gemeinsam mit der Tanzcompagnie Gießen auftritt, und in der Gala ihre eigene Arbeit glanzvoll vorstellen konnte.
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