Kontinuität
Goyo Montero bleibt bis 2028 Ballettdirektor in Nürnberg
Es ist notwendig, dass sich die Gender-Debatte in Öffentlichkeit und Medien hält. Jeder Blick, jeder Kommentar, jedes Aufzeigen ist dienlich, wenn es darum geht, nicht über die verschiedenen Energien und Erfahrungen von Mann und Frau, egal wo, hinwegzusehen. Und auch wenn man in Bezug auf den Titel des neuen Ballettabends am Staatstheater Nürnberg kaum darauf kommt: „Kylián/Goecke/Montero“ ist nicht nur ein fabelhafter Dreiteiler, sondern auch ein wertvoller Beitrag aus dem Hause Montero zum oben genannten Mega-Diskurs.
Wie immer ist das Opernhaus des Staatstheaters Nürnberg bei einer Premiere des Balletts voll besetzt. Es geht los mit Goecke. Im elften Jahr seiner Direktion war es Ballettdirektor Goyo Montero gelungen, mit „Thin Skin“ eine der wichtigsten Arbeiten des deutschen Ausnahme-Choreografen nach Nürnberg zu holen. Das vor vier Jahren geschaffene Stück für das Nederlands Dans Theater, wo Goecke bis heute Residenzchoreograf ist, gleicht vielfach einer Ekstase, sowohl was die Umsetzung des sehr speziellen Bewegungsstils von Goecke anbelangt als auch inhaltlich.
„Thin Skin“ erzählt vom Fühlen und Empfinden, vom Vermissen und Verschmelzen und das so virtuos und schön, dass man fast froh ist, dass sich am Ende nur noch das Atmen einer Frau und eines Mannes miteinander vermischen, die rhythmisch aufeinander zu treiben. Hilfe hatte sich Goecke für die Re-Kreation dieses einzigartigen, nervös-fiebrigen Bewegungstableaus, von dem es bis heute fast siebzig weitere Variationen in Gestalt anderer Stücke gibt, bei der amerikanischen Songwriterin Patti Smith geholt. Fünf mal weich gesungene, mal rau intonierte Lieder zu Beats, die in den Bauch gehen, dienen als Ausgangspunkt und Grundlage, auf denen dann das formvollendete Werk erblüht. Hierfür hatte Goeckes Ballettmeister Ludovico Pace zehn Tänzerinnen und Tänzer ausgewählt, denen er Goeckes Wort- und Bewegungsuniversum in den Leib hineindiktieren konnte – mit großem Erfolg.
Im programmatischen Zusammenhang des Abends leuchtete ein Aspekt an Goeckes Werk auf, der bis dahin kaum benannt worden war. „Thin Skin“ zeigt so selbstverständlich, wie sich die Gender-Frage in Goeckes Kunst als neuer Signatur im Ballett des 21. Jahrhundert eben nicht stellt. Mann und Frau tragen denselben Look, lange Hose und nackte Haut (hier zunächst durchsichtige Shirts mit Tattoos) und sie tanzen dasselbe Bewegungssystem, ohne dass ihre Geschlechtsunterschiede einer Bewegungsideologie geopfert werden. Im Gegenteil: sie bleiben sichtbar, ablesbar an der Aura der jeweils vollzogenen Bewegungshandlungen. Und gerade dadurch entsteht lebendige Sprache zwischen ihnen. Mal unbeholfen. Mal betörend. Mal erotisch. Mal freundschaftlich. Mal sinnlich-sexuell. Goeckes Frauen sind im Besonderen nie schwach. Nie entblößt. Oder auf irgendeine Weise begrenzt. Sondern immer stark und schön, vielleicht sogar noch ein wenig stärker als die Männer, und dabei genauso verletzbar und genauso dem Innersten, den Alb- und Sehnsuchtsträumen, ausgeliefert.
Die bei Goecke formulierte Geschlechter-Utopie markiert dann den Auftakt einer Betrachtung von männlicher und weiblicher Energie, wenn man so will. Es folgt eines der berühmtesten Tanzwerke der 1980er und 1990er Jahre in Europa: „Falling Angels“, das Jirí Kylián 1989 für acht Tänzerinnen als Hommage an Frauen, ihre weibliche Kraft und Energie, aber auch ihr Schicksal, sich eben oft nicht genug entfalten zu können, geschaffen hatte. Montero hat es für das seit zehn Jahren sich entwickelnde wertvolle Repertoire von Meisterwerken aus der jüngsten Tanzmoderne gewinnen können und es ist eine Freude, zu sehen, wie es am Staatstheater Nürnberg interpretiert wird.
Ins Auge fällt die Schönheit der sehr diversen Besetzung. Große Frauen tanzen neben eher kleinen Frauen; Tänzerinnen mit schmalem Körperbau neben Tänzerinnen, die rundlicher wirken; Frauen, deren Athletik fasziniert, neben anderen, die von Natur aus eine elegante Linie in ihren Körper eingeschrieben bekommen haben. Alle im berühmten schwarzen Trikot gekleidet, folgen sie meist synchron den treibenden rhythmischen Schlägen der Trommelmusik von Steve Reich bis immer eine ausbricht und auf vertiefte Weise ihre Individualität zeigen darf. Es war Kylián gelungen, für das Stück eine eigene, heute ikonografisch ihm zugeschriebene Bewegungssprache gefunden zu haben: wie Flügel wirkende Hände über dem Kopf oder auf dem Rücken, abgeknickte Arme und Beine, die in schnellem Wechsel Bewegungsmuster formen, die einen Kollektivkörper sprechen lassen. In Nürnberg fasziniert das Werk nun nicht nur wegen der Präzision, mit der die Tänzerinnen das Werk zum Leben erwecken, sondern wegen seiner starken Energie von Weiblichkeit, die sich über den Bühnenrand hinweg ihren Weg ins Publikum bahnt.
Was das letzte Stück des Abends anbelangt, die Uraufführung von Montero, landet man, in sich hineinlachend, tatsächlich kurz in der Konzertarena. Wer kennt ihn nicht: „Männer“ – den Kult-Song von Herbert Grönemeyer aus dem Jahr 1984, in dem er so herrlich die Widersprüche im männlichen Menschsein auf den Punkt bringt. Montero wählt auch das „M“ als Kurztitel und choreografierte für neun Tänzer seines Ballettensembles ein Werk, das, vom dem her, was es über Männer erzählt oder vielmehr, in starken Tanzbildern von ihnen fühlen lässt, glatt als unerwartete Fortschreibung des Grönemeyer-Songs mit anderen Mitteln durchgehen kann – mit dem einen Unterschied: Montero, Jahrgang 1976 und geboren und aufgewachsen in Spanien, erinnert sich noch an Zeiten, in denen es in seinem Heimatland nicht so liberal zuging wie heute. Dort hatte „der Mann“ sowieso seinen Mann zu stehen, mit all den ihm scheinbar zustehenden Rechten auch gegenüber der Frau, und die Liebe zu einem anderen Mann galt schlichtweg als Tabu, die bei den Betroffenen auch zu Selbsthass führen konnte.
Montero zeigt das in einem klaren, eindrücklichen Moment. Kraftvoll haben sich in seiner Choreografie die Tänzer zur Horde zusammengerottet, als sich zwei von ihnen unverhohlen und sinnlich auf den Mund küssen – den einen richtigen Moment zu lange, um mal wieder das Gefühl zu haben, dass die Wirklichkeit, das reale Leben in das alles repräsentierende Kunstwerk einbricht. Atemlos taucht man in das folgende Bild ein, als der Liebende aus der Gruppe ausgestoßen wird. Starr steht er ihr gegenüber und erlebt, wie sich deren Gesichter in Fratzen verwandeln und ihm einen lautlosen Schrei entgegen schleudern. Erneut offenbart sich Montero als universal empfindender und politisch denkender Künstler.
Zum Schluss von „M“ wiederholt sich ein solch echter, emotional herausfordernder Moment. Nachdem sich die Tänzer bald dreißig Minuten lang, nur mit Röcken oder kurzen Hosen bekleidet, technisch hochathletisch und zu einer bombastisch anschwellenden Klanglandschaft von Owen Bolten verausgabt und dabei als Gruppe den Entwicklungsweg vom Kind zum Mann mit Augenzwinkern in den Raum geröhrt, gepusht, gefeiert haben, greifen sie zu Seilen und lassen sich wie Engel in den Schnürboden hochziehen – lachend, weinend, winselnd – „außen hart und innen ganz weich“, wie einer von Grönemeyers berühmten Versen lautet. Das Publikum tobt und Montero feuert es beim Schlussapplaus tatsächlich mit denselben Handbewegungen an, wie Grönemeyer es praktiziert, unlängst live erlebt. Was für ein Abend.
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