„Sanssouci“ von Stephan Thoss

„Sanssouci“ von Stephan Thoss

Souveräner Tanzerzähler

Stephan Thoss kreiert „Sanssouci“ in Mannheim

Ein performatives Panorama über das Unbehagen in der wiederentdeckten Moderne zum 30jährigen Choreografie-Jubiläum.

Mannheim, 20/03/2019

Wer merkt's? Stephan Thoss, Tanzchef am Nationaltheater Mannheim, feiert 2019 tatsächlich ‚Choreografenjubiläum‘. Vor dreißig Jahren hatte er am Staatstheater Kassel seine ersten Choreografien präsentiert. Seine jüngste Premiere mit dem Titel „Sanssouci“ spiegelt Thoss erneut als den souveränen Tanzerzähler, der er geworden ist, und trifft darüber hinaus ins Schwarze, was den Zustand der Menschen in der Welt betrifft: „Sanssouci“ kann als performatives Panorama über das Unbehagen in der wieder entdeckten Moderne gedeutet werden.

Thoss ist ein Künstler aus und in Deutschland. Geboren in Leipzig, steht er seit über zwanzig Jahren an der Spitze von Ballett- und Tanzensembles im Land. Nach den Bühnen der Landeshauptstadt Kiel, dem Staatstheater Hannover und dem Hessischen Staatstheater Wiesbaden definiert der mehrfach ausgezeichnete 54-Jährige nun bereits seit drei Jahren den Spielplan in der Quadratestadt.

Für „Sanssouci“ arbeitete er am Haus erstmals mit der Oper zusammen. Die gemeinsam mit Kapellmeister Matthew Toogood und Bühnenbildner Martin Kukulies geschaffene Neuschöpfung stellt eine gelungene Version eines multidisziplinären Abends mit Oper, Tanz und Raum, Chor, Kompanie und Kulissen, dar. Inhaltlich überzeugt „Sanssouci“, das auf das 1747 fertiggestellte Sommerschloss von Preussenkönig Friedrich II. in Potsdam Bezug nimmt, auf ganzer Linie. Im dringend sanierungsbedürftigen Nationaltheater nicht unweit des Mannheimer Barockschlosses uraufgeführt, verkörpert das hybride Werk das große Unbehagen der wiederentdeckten Moderne in seinem ausdrucksstark getanzten und gesungenen, die Zeiten durchschreitenden Panorama. Eindrücklich und verunsichernd führt es in klaren Bildern die Vermassung und Anonymisierung des Menschen vor Augen, wie sie sich vor über hundert Jahren geformt haben. Wie diese moderne Gesellschaft schließlich erschreckend überheblich und blind in den Ersten Weltkrieg hineingeschritten ist und sich danach kühl-sachlich einerseits, lebenshungrig und um die richtige Ordnung ringend andererseits in neuen, unsicheren Zeiten eingerichtet hat. Ausgesetzt-Sein, Aufbegehren, Überlebenskämpfe, Ohnmachtsgefühle gegenüber der Macht der Klassen und Institutionen, aber auch die Dynamiken von Gruppe und Urbanität liegen in der Luft. Immer wieder formieren sich SängerInnen und TänzerInnen zu immer neuen Gruppen, die ein verloren wirkendes, sich kaum selbst äußern könnendes Mädchen im weißen Hemdchen (Torill Kolsrud) umschließen – Sinnbild für die moderne, verlorene Seele. Am Ende geht sie allein, mit verknickten Füßen. Einer nur sieht ihr nach. Applaus.

Ob Stephan Thoss auf eine solche Deutung hinaus wollte, weiß man nicht. „Sanssouci“ hat jedenfalls dieses Potenzial, auch wenn die Angaben zum Inhalt konkreter waren und sich in der ersten Hälfte des Abends an der Figur Friedrich II. orientiert haben. Aber ist es nicht so, dass jedes gute Tanzwerk sich von den Intentionen, Motiven und konkreten Aufgabenstellungen, die sich der Choreograf mit seinem Team stellte, löst, um mit der Gegenwart und ihren BetrachterInnen zu kommunizieren – ganz nach dem Motto: „Kunst ist nicht, was du siehst, sondern was sie sehen lässt?" Und in Stephan Thoss Kunst stecken drei Jahrzehnte Choreografie- und Lebenserfahrung.

„Ich suche schon gesellschaftliche Themen, von denen ich das Gefühl habe, dass es sich lohnt, sie auf der Bühne zu reflektieren,“ sagte Thoss einmal in einem längeren Gespräch. Themen, die Menschen umtreiben, bilden das Dach, unter dem er seine Spielpläne plant – seien es Spielarten der Liebe im Zusammenspiel mit Angst, Egoismus oder Leidenschaft, wie in der vergangenen Spielzeit in Mannheim; sei es das Themenfeld Tanz als Stimme des Körpers und Sprache von Unsagbarem, wie in der aktuellen Spielzeit. So inszenierte er in „Der Tod und das Mädchen“ schonungslos ein emotional erkaltetes, um sich selbst drehendes Elternpaar aus der Mittelschicht. Im „Verräterischen Herz“ befasste sich Thoss mit Edgar Allen Poes gleichnamiger Kurzgeschichte aus dem Jahr 1843: dem Monolog eines Mörders, der von der Erinnerung an seine Tat gequält wird. Thoss Darstellung von Angst und ihren Folgen, etwa dem Versuch eines Einzelnen, aus der Isolation heraus einen Alltag aufrecht zu erhalten und dennoch von den immer mehr werdenden Wahrnehmungsstörungen beherrscht zu werden, geriet superb. Irgendwann wähnte man sich in einem Mystery Film.

In „Sanssouci“ beweist sich Thoss einmal mehr als souverän bekennender Tanzerzähler. Als einer, der Handlung auf die Bühne bringt, um diese dann atmosphärisch so einzubetten, dass Zeit-Portraits entstehen. Dabei bewertet Thoss nicht, er lässt sehen. Er ist an seinen Figuren, deren Charakteren und ihrer Dramaturgie sehr interessiert und fokussiert diese in der Bewegung. Bei seinem herausragenden Gefühl für Timing und seiner Musikalität ziert manchmal jeden Ton, jede Melodie eine eigene Bewegung. Man wird nicht müde zu verfolgen, wie seine oft aus dem tiefen Plié kommenden Bewegungsfolgen, erdig, expressiv, dynamisch-kraftvoll und gestenreich in den ausschwingenden Armen und Händen, zuweilen keck im Becken, seinen Figuren zur Sprache werden. So auch in „Sanssouci“.

„Sanssouci“, ‚Ohne Sorgen‘, welch ironischer Titel plötzlich. Das Stück empfängt seine ZuschauerInnen im ersten Bild tatsächlich in einem Schloss. Dort sitzt Joris Bergmans als alter Friedrich gebeugt in seinem Sesselchen; links von ihm seine Schwester Amalia (Emma Kate Tilson), von Liebesschmerz gequält. Beide ProtagonistInnen fasst Thoss jeweils in Trios. Mit Julia Headley und Jamal Callender stellt er ihnen nicht nur eine Verkörperungen der Musik bei, mit denen sie sich in einen Bewegungsfluss finden, sondern auch noch jeweils Gesang. Zu sehen ist, was sonst verborgen bleibt: Sprachfluss und Bewegungsfluss laufen synchron und korrespondieren miteinander. Glückhafte Momente für TanzliebhaberInnen.

Das Leben zweier herausgehobener Figuren aus der Oberschicht und ihre familiären Lasten – etwa der strenge, fast grausame Vater Friedrichs und Amalias - ist in den folgenden prägnant choreografierten Szenen Thema des ersten Teils. Auch die gesamte Familie Bach sowie der Philosoph Voltaire tauchen auf. Die Genauigkeit, mit der Thoss hier eine Phantasmagorie des Vergangenen entwirft, fasziniert. Ein Tasten in ferne Zeiten, in denen neben Liebe und Macht, Intrigen und Schurkereien den der Kunst zugewandten Menschen seelisch übel mitspielten. Musikalisch entfaltet sich der erste Teil mit dem Titel „Innen“ mit Musik von Johann Sebastian Bach und den zeitgenössischen Komponisten Arash Safaian und Valentin Silvestrov. Damit liegt er musikalisch auf spannende Weise zum zweiten „Außen“ betitelten Teil überkreuz. Denn dieser sich zu unserer Gegenwart hin öffnende Teil folgt Händels geistlichem Konzert „Dixit Dominus Domino meo“ aus dem Jahr 1707.

Das hier schon musikalisch platzierte Schweben durch die Zeiten, die Auflösbarkeit ihrer Grenzen, wird von einer durchdachten Raumlösung begleitet. Von Szene zu Szene verschwinden Wände des Schlosses nach oben. Die Bühne wird immer weiter. Es eröffnen sich neue Perspektiven. Lange Flure durch alte Räume führen in neue Räume immer jünger werdender Vergangenheit, solange bis Schlosswände zu sehen sind, deren Putz abfällt. Die Weite des Himmels offenbart sich. Zwölf Glockenschläge in einem weiten Kirchenraum der Macht eröffnen und beenden den zweiten Teil. Chapeau!
 

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