Der Intensive und der Sanfte
Doppelabend „Novitzky / Dawson“ am Ballett Stuttgart
„7 PORTRAITS OF SOLITUDE - 7 Films by David Dawson“ hat heute seine Online-Premiere
Für seine sieben Porträts der Einsamkeit hat der Choreograf David Dawson, der auch für Konzept und Regie verantwortlich zeichnet, sieben verlassene, aufgegebene, umgewidmete oder nutzlose Orte gewählt, deren symbolische Einsamkeit mit den einsamen Soli der Tänzerinnen und Tänzer auf beeindruckende Weise korrespondiert.
Da ist etwa Sangeun Lee mit ihrem Blick zurück auf die verlassene Weite des Rollfeldes eines längst aufgegebenen Flughafens, dazu sensible Melodik für Violine und Klavier von Max Richter. Am Ende dieser mitfühlenden Miniatur ein Schimmer der bewegten Hoffnung hin zur fernen Silhouette der Stadt am Rande des verlassenen Platzes mitten in Berlin.
Wo sich sonst die Wege eilender Menschen kreuzen, wo im Tempo des Alltags die Geschäftigkeit des Alleinseins vorherrscht, im jetzt menschenleeren, unterirdischen Raum einer großstädtischen U-Bahnstation eilt John Vallejo zum Klangsound von Peter Gregson kraftvoll an gegen diese beängstigende Einsamkeit. Die Kamera kommt dem Tänzer ganz nahe, um ihn dann wieder in den Abstand zu entlassen. Als wolle er einem Labyrinth entfliehen, stürmt Vallejo auf der leeren Treppe, neben den Rolltreppen im Stillstand, in die Höhe, sein letzter Sprung führt in ungewisse Dunkelheit.
Von berührender Symbolkraft ist der einsame Tanz Aidan Gibsons zu den fernen, erinnernden Klangflächen von Greg Haines. Die Tänzerin, ganz bei sich selbst, in einem verlassenen Ballsaal, hinterlässt ihre Spuren erinnernder Bewegungen auf dem verstaubten Parkett des um seiner Seele beraubten Saales.
In gefühlt himmelsnaher Höhe über der Stadt, auf Dach und Terrasse des Dresdner Kongresszentrums zu Klavierklängen von Szymon Bróska, tanzt Alejandro Martinez in so kraftvoller wie widerständiger Einsamkeit. Mitunter wirkt es, als gäbe es keinen konkreten Raum in dieser Höhe, in diesem abgehobenen Nirgends einer Stadt, die so nah und so fern zugleich erscheint.
Und immer wieder, so typisch für die choreografischen Metaphern von David Dawson, die Führung der Arme und Hände in die Höhe, mitunter als berührten sie unsichtbare Welten oder schmiegten sich an die nur für sie im Moment des Tanzes wahrnehmbaren schützenden Umhüllungen spürbarer Zuneigungen, von denen ja diese so zerbrechliche Kunst der augenblicklichen Vergänglichkeit lebt.
Dawson lässt in seinen Bewegungen auch immer wieder momenthaft rituelle Ursprünge des Tanzes aufblitzen. Seine Eindringlichkeit der wortlosen Sprache belegt eindrücklich die These der Tanzwissenschaftlerin Dorion Weickmann, dass der Tanz die Muttersprache der Menschheit sei.
Akzente solcher Art setzt auch das Solo von Courtney Richardson zu Musik des Meisters einsamer Klänge Gevin Bryers. Dazu die Symbolkraft des Ortes, der äußere Eingangsbereich einer Dresdner Kirche, die zur Hälfte längst ihrer einstigen Bestimmung entwidmet ist. Aber gerade hier haben die hoch geführten Hände der Tänzerin besondere Kraft. Stark berühren die bei versunkenem Ausdruck wiegenden Bewegungen der Hände, als hielte sie ein Kind. Und doch, das verdankt sich dem kraftvollen Ausdruck der Tänzerin, die Einsamkeit wird nicht den Sieg davon tragen. Es gilt, diese Momente anzunehmen und daraus letztlich auch Kraft zu beziehen.
Mit der Kraft seiner tänzerischen Bewegung widersetzt sich Houston Thomas der erschreckenden Leere einer derzeit nicht genutzten Messehalle. Erstaunlich wie im Zusammenklang mit Musik von Robin Rimbound-Scanner der raumerobernde Tanz die räumliche Leere belebt. Hier erschließt sich auch der assoziative Ansatz der Choreografien, nämlich aller räumlichen, äußeren Leere und aller Bildhaftigkeit materieller Einsamkeit, die Kraft menschlicher Einsamkeit entgegen zu setzten. Ja, das mag widersprüchlich klingen, ist aber mit den horizonterweiternden Möglichkeiten des Tanzes im Dialog mit Klang und Raum durchaus nachvollziehbar.
Einen besonderen Akzent setzt Alice Mariani zur Musik von Alex Baranowski im leeren Dresdner Opernhaus. Die kraftvolle Dynamik ihres Tanzes durchbricht diese Leere, und so ist es in aller Einsamkeit dieses Solos, dennoch ein Zeichen schönster Hoffnung, wenn im Verlöschen des Klanges und des Lichtes die Tänzerin sich dem hier noch nicht anwesenden Publikum zuwendet mit dem symbolischen Ausdruck, dass es vielleicht mitunter der Einsamkeit bedarf, um immer wieder jene Kraft zu erwerben, mit der es besonders im wortlosen Tanz gelingen kann, Menschen für Momente aus den Einsamkeiten der Alltäglichkeit zu befreien.
David Dawson sagt, er wolle mit diesem Projekt „eine Botschaft der Hoffnung senden“. Das gelingt ihm. Zudem gehe es ihm darum, unbedingt nötige Hilfen für Künstlerinnen und Künstler zu leisten, daher finden sich auf der Seite seines Projektes auch entsprechende Adressen möglicher Ansprechpartner und Organisationen. So kommen mit diesen sieben Soli der Einsamkeit viele Möglichkeiten zusammen, mit Einsamkeiten umzugehen, ohne daran zu zerbrechen.
Und nicht zu vergessen, die Kraft des Zufalls, so schön wie symbolkräftig:
Heute feiert David Dawsons choreografisches Filmprojekt seine Onlinepremiere, zu sehen ab 18:00 Uhr auf der Seite des Choreografen (https://www.daviddawson.com/work/7portraitsofsolitude/). Und morgen Abend geht dann im Opernaus der Vorhang wieder live auf für den Tanz bei der Gala des SemperoperBalletts: „Semper Essenz: We will dance!“
(Nachtrag der Redaktion: die Gala-Vorstellungen des SemperoperBalletts: »Semper Essenz: We will dance!« entfielen bzw entfallen wegen Covid 19-Infektionen in der Kompanie).
Informationen: »7 PORTRAITS OF SOLITUDE - 7 Films by David Dawson«, Weltpremiere, heute ab 18.00 Uhr: https://www.daviddawson.com/work/7portraitsofsolitude/
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