„The Place of Choice“ von Roman Novitzky, Tanz: : David Moore, Ensemble

Der Intensive und der Sanfte

Doppelabend „Novitzky / Dawson“ am Ballett Stuttgart

In „The Place of Choice“ schickt Roman Novitzky den Solisten David Moore durch die Hölle, und „Under the Trees‘ Voices“ ist wieder David Dawsons stille Flucht in die Ästhetik. Das Stuttgarter Publikum ist von den Uraufführungen zu Recht hingerissen.

Stuttgart, 29/06/2024

Ein Jenseitsbesucher kann schon mal ganz unaufgeregt in grauem Shirt und ebenso schlichter Hose unterwegs sein. Für den Ritt durch die Hölle gibt es eh keine passende Kleidung. Genau so macht sich der Solist David Moore auf den Weg, den der Choreograf in Residence am Stuttgarter Ballett, Roman Novitzky, Dantes „Göttlicher Komödie“ nachskizziert hat. Seine Hauptfigur verirrt sich zu Anfang allerdings in keinem Wald, sondern ganz offenbar in sich selbst: Ein nervöses Solo in einem leeren Raum zeugt von einem inneren Kampf, von Zweifeln und Unsicherheiten. Das ist groß, das ist dramatisch, trotzdem aber agiert Moore völlig uneitel. 

Und, so könnte man meinen, Novitzky hat die Reise nach Dante auf den Kopf gestellt, schließlich wirken die weißen Kostüme (Aliki Tsakalou) des Ensembles unschuldig paradiesisch. Die durchaus harten, kantigen Ansätze der Bewegungen werden verlängert durch einen schwarzen, reflektierenden Tanzboden. Yaron Abulafia hat eine organische Einheit aus Licht und Bühne geschaffen, die im ersten Teil im Hintergrund durch ein überdimensioniertes, leuchtendes Oval dominiert wird. Während sich alles und jeder um den Wanderer zwischen den Welten bewegt, setzt Abulafia das Licht so ein, dass das Spiel der Muskeln der Tänzer*innen zu fast übermenschlicher Mechanik wird, während Mikhail Agrest das Staatsorchester Stuttgart lustvoll entspannt durch die Komposition „Falling Fields & Pixel Paths“ von Henry Vega steuert, die sanfte Streicherpartien genauso kennt wie partiell eingespielte Tonspuren, etwa wie Regengeräusche. 

Portal zur Hölle

Welche läuternde Wirkung dieser Regen hier hat, lässt sich nur schwer ausmachen, wenn sich Moore schließlich vor zwei senkrechten LED-Linien wiederfindet, die wie ein Portal wirken, durch das aber er als Einziger nicht treten darf. Nur durch diese beiden Lichtlinien und den Einsatz von Bühnennebel entsteht ein Raum, dessen „Wände“ nur für ihn zu existieren scheinen und die gleichzeitig Flexibilität erlauben und, durch weitere Lichtstimmungen zweigeteilt, zwei verschiedene Räume gleichzeitig bilden können. Moore kann seinen eigenen Weg ganz offenbar nicht beeinflussen; ganz ohne sein Zutun verschwindet das Portal und gibt den Blick frei auf eine ganz offensichtliche Hölle. Ganz in schwarzen Kostümen, die fast wie Leder glänzen, vermummt sich das Ensemble in langen Mänteln mit Kapuzen, was nicht ohne Bedrohlichkeit bleibt. Der Tod tanzt mit, wenngleich mit den Mänteln auch ziemlich clever gespielt wird. Verstörendes Lichtflackern für eine kultisch eingeschworene Gemeinschaft. Und es wird eng für den Reisenden, im Wortsinn, denn die Bühne wird seitlich von mauerähnlichen Elementen weiter eingegrenzt, die durchaus die Assoziation zu einem Tempel zulassen. 

Schlussendlich aber spielt der Ort an sich dann offenbar gar keine Rolle mehr. Das Ensemble vermischt sich schließlich, alle bisherigen Kostüme kommen gleichzeitig auf die Bühne. Und Moore steht plötzlich nicht mehr im Mittelpunkt. Frei von aller Anspannung laufen alle Tänzer*innen einfach quer über die Bühne, unsystematisch, befreit. Das bringt den Titel wieder in den Blick: Für welchen inneren Ort entschließen wir uns?

Stille Elegie

Eine solche emotionale Achterbahnfahrt liefert Dawson bekanntlich nie. Man weiß bei ihm stets, was man erwarten darf. Und so verhält es sich auch im Fall seines „Under the Trees‘ Voices“ mit der gleichnamigen Komposition von Ezio Bosso, bei dem er zum wiederholten Mal mit dem Bühnendesigner Eno Henze zusammenarbeitet. Für Dawsons „The Four Seasons“ (2018) an der Semperoper hatte Henze eine bewegliche Installation verschiedener, riesiger geometrischer Elemente geschaffen, die über der Bühne hingen und die sich während des Stücks völlig geräusch- und reibungslos ganz langsam bewegten und damit immer wieder neue Konstellationen und Bilder geschaffen hatten. Gleichzeitig ist Henze ein Freund der klaren, geraden Linie, für die er auch immer wieder nüchtern weiße Leuchten einsetzt. Nimmt man Dawsons offensichtliche Lieblingsfarbe Grau hinzu, hat man bereits eine Ahnung, wie die Bühne hier gestaltet ist. Graue, aus dem Schnürboden hängende, leichte Wände begrenzen die Seiten; die klaren Linien-Leuchten bewegen sich auch immer wieder schräg aus dem rechten Winkel heraus. Das allerdings läuft alles so langsam und geschmeidig ab, dass es keinen Moment der Ablenkung von Dawsons sanfter Ästhetik gibt, die man durchaus hinsichtlich ihres neoklassischen Ansatzes mit der Novitzkys vergleichen kann. Nur, dass Letzterer sein Ensemble in „The Place of Choice“ nicht en pointe tanzen lässt. Und geschmeidig ist durchaus ein Begriff, mit dem man auch das ausgezeichnete Ensemble belegen kann. 

Yumiko Takeshima, ehemalige Solistin der Semperoper und als Kostümdesignerin spätestens seit dem Film „Black Swan“ bekannt, hat die Tänzer*innen in hautenge schwarze, uniforme Trikots gesteckt, die in ihrer Transparenz keine Fragen offenlassen. Diese Schlichtheit schafft einen klaren Kontrast zu der hellen Bühne, unterstützt durch das Lichtdesign von Bert Dalhuysen, das ganz analog größtmögliche Reduziertheit zeigt und ganz ohne große Variationen der Stimmungen auskommt. 

Dawsons kraftvolle Elegie sucht immer wieder die aufrechte Position und grenzt sich damit sichtbar von Novitzkys Sprache ab. Fast wie eine Art Gegenstück zum Höllenritt der ersten Arbeit zeigt das Ensemble hier eine hoffnungsvolle Zuversicht, die still in sich ruht. Fraglich ist dabei allerdings, ob nicht die Musik hier eine Dramaturgie vorgibt, von der sich Dawson zu einfach (ver-)leiten lässt. So oder so ist sein Eskapismus, seine stille Größe in der Eleganz klar sein Markenzeichen. Und von dem lässt er auch hier wieder nichts vermissen und bleibt ganz bei sich. Das Premierenpublikum schien das in jedem Fall so zu sehen. 

 

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