Ein Neuer für Hannover
Nachfolger für Marco Goecke steht fest
Die Tanzpremiere „Rastlos“ am Staatstheater Hannover als Live-Stream
Man war schon ganz darauf eingestellt, dass im November wieder alle kulturellen Ereignisse ausfallen. Da kommt überraschend kurz vor dem geplanten Premierentermin von „Rastlos“, dem jüngsten Ballettabend an der Staatsoper in Hannover, die Nachricht, dass die Premiere doch stattfindet. Allerdings ohne Publikum, dafür als Live-Stream. Es ist ein Experiment. Kann das funktionieren, ist das eine wirkliche Premiere - und: wie viel bleibt übrig von einem Tanz, der gestreamt wird? Das sind die Fragen, bevor ich mich neugierig an den Computer setze und den Abend auf mich wirken lasse.
Die Aufführung beginnt mit „Moonlight“, einer Choreografie des jungen brasilianischen Gastchoreografen Juliano Nuñes, der eine emotionelle, fließende Tanzsprache zu einem Satz aus Beethovens Hammerklaviersonate entwickelt. Die Musik verschmilzt nach seiner Aussage mit seiner Interpretation von Mondlicht, das er als Metapher für seine Arbeit ansieht: wie der Mond, so spiegele auch er seine Umwelt, ziehe aus ihr Inspiration für seine Arbeit. In diesem Fall spiegelt er auf eindrucksvolle Weise die Musik Beethovens, die unter dem Eindruck des fortschreitenden Hörverlustes des Komponisten einen melancholischen Unterton hat. Nuñes vermag mit seinen Gruppenformationen (in gebührendem Abstand voneinander getanzt) und darin eingestreuten Soli zu berühren, die Tiefe der Musik auszuloten... Der Bewegungsfluss wird manchmal unterbrochen durch Posen der Tänzer*innen, die mit dem Finger gen Himmel zeigen oder mit weit geöffneten Armen den Blick nach oben schicken, dies wirkt allerdings nie plakativ, sondern ist ein willkommener Moment des Innehaltens. Eine gelungene Choreografie, die von den neun Tänzer*innen des Staatsballetts gekonnt und mit Freude dargeboten wurde. Man hätte gerne noch einen weiteren Satz aus Beethovens Sonate so getanzt gesehen!
In den Umbaupausen gab es dann kurze Interviews mit den Gastchoreografen und auch mit Marco Goecke, dem Ballettdirektor des Staatsballetts, der sich zufrieden und beeindruckt zeigte von den Arbeiten seiner Kollegen. Und wirklich: er hat gute Karten in der Hand mit seinen Kontakten nach Holland und zum Nederlands Dans Theater, für das er auch selbst immer wieder choreografiert und dessen Choreografen er nach Hannover als Gäste einlädt. Nach Hans van Manen in der vergangenen Saison, jetzt Jiří Kylián, einer der größten Choreografen unserer Zeit, selbst Gründer und lange Jahre Chef des NDT.
An diesem Abend kommt das Solo „Double You“ von Kylián zur Aufführung. Ursprünglich 1994 für einen 40-jährigen Tänzer am Ende seiner Laufbahn geschaffen, thematisiert es das Leben in seiner Ganzheit, auch mit Verlust und Trauer, eine Gratwanderung durch die eigene Lebenszeit, deren Vergehen von zwei übergroßen goldenen Pendeln symbolisiert wird, die durch das ganze Solo im hinteren Bühnenbereich hin und her schwingen. Der Titel ist - wie das Programmheft verrät - auch ein Wortspiel: die Worte mit „W“ (im Englischen homophon zu Double You) sind laut Kylián für das Stück auf seltsame Weise von Bedeutung: why/ win/ wind/ window/ wine/ wing/ winter/ wise/ which/ wish ... usw. Dem noch recht jungen Tänzer Tommy Rous ist die Anspannung anzumerken, diesem großen Wurf gerecht zu werden. Doch er meistert die Aufgabe, diese Choreografie zur Bach-Partita Nr. 4 zu tanzen, mit großer Prägnanz und einer Körperpräsenz, die im heute gängigen zeitgenössischen Tanz ihresgleichen sucht. Eine beeindruckende Leistung!
Als drittes Stück wird „Masculine / Feminine“ des slowakischen Choreografen Lukáš Timulak - ebenfalls langjähriges Mitglied des NDT-Ensembles - präsentiert. Vor einer stilisierten Appartement-Kulisse werden kleine Beziehungsszenen dargeboten, die inspiriert sind von John Grays Buch „Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus“ und seiner Unvereinbarkeitsthematik der Geschlechter untereinander. Die Choreografie wurde 2011 mit dem NDT 2 in Den Haag uraufgeführt. Alltägliche Situationen mit einem Schmunzeln aufzugreifen, ein Stück mit Leichtigkeit und Humor zu schaffen, war die Intention des Choreografen. Doch will der Funke nicht so richtig überspringen: zu einer eher nervigen, uninspirierten Musik aus einer Mischung aus Percussion und E-Bass und auf Englisch eingespielten Zitaten aus dem Buch entsteht eine tänzerische Szenenfolge, die teils durch gelungene körpersprachliche Zitate typisch weiblicher Verhaltensweisen oder auch durch den geschmeidigen Machismo der Männer beeindruckt, doch insgesamt zu flach, zu illustrativ daherkommt. Der Choreograf konstatiert nur, er sagt zum Thema nicht wirklich etwas aus. Die Darstellung ist zwar temporeich und elegant, der Humor kommt aber nicht wirklich rüber. Ob das wohl an der Übertragung über den Bildschirm liegt, oder an dem schwer verständlichen Text? Dieses Stück braucht sicher ein Live-Publikum, um zu funktionieren.
Dennoch bleibt es ein Abend mit sehr unterschiedlichen, interessanten künstlerischen Handschriften: wo Timulak einfach Szenen aus dem Buch illustriert, gibt Kylián den Zuschauer*innen ein Rätsel auf und lässt sie teilhaben an der Seelenreise eines Tanzenden / eines Menschen, der die Wogen des Lebens tapfer konfrontiert. Eine lohnende tänzerische Aufgabe für den talentierten Tommy Rous, der im Laufe der nächsten Vorstellungen - die ab Dezember hoffentlich wieder live und mit Publikum stattfinden werden - daran wachsen und reifen wird. So wie auch alle anderen Tänzerinnen und Tänzer des Staatsballetts Hannover, die sich unter der Leitung von Marco Goecke zu einer sehr interessanten, vielseitigen Kompanie entwickeln. Für die Choreografen ist die Premiere jetzt „raus“, für die Tänzer*innen beginnt wieder eine Zeit des Wartens auf den nächsten Auftritt, denn wachsen können die Tänzer*innen nicht über die Aufzeichnung des Streams, der jetzt bis Ende November online steht. Wachsen können sie nur, in dem sie live tanzen, tanzen, tanzen.
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