Marco Goeckes Vertrag beendet
Die Staatsoper Hannover trennt sich mit sofortiger Wirkung von ihrem Ballettdirektor
In den letzten Monaten hat sich gezeigt: Bei filmischen Umsetzungen von Performances, egal, ob Tanz oder Artverwandtes, muss in jedem Fall das Medium mitgelesen werden. Die Turboentwicklung, die hier im letzten Jahr nolens volens stattgefunden hat, bringt inzwischen eine Erwartungshaltung auf Seiten des Publikums mit sich, was die filmische Qualität anbelangt. Die Notlösung des bloßen „Abfilmens“ einer Choreografie geht nicht mehr durch. Die Zeit der Notlösungen liegt hinter uns. Das wird ganz erfreulich deutlich in der ersten abendfüllenden Arbeit von Marco Goecke für das Staatstheater Hannover, dessen Ballettdirektor er seit der Spielzeit 2019/20 ist.
Die Vorlage seiner neuen Arbeit fand er in Marguerite Duras‘ „Der Liebhaber“ (1984), einem in Teilen autobiografischem Roman, der mit seiner Verweigerung einer konsistenten Handlung atmosphärische Bruchstücke liefert, die für eine tänzerische Umsetzung bestens geeignet scheinen, zumindest zeigt das Goeckes Arbeit.
Fünfzehneinhalb Jahre alt ist die namenlose Protagonistin des Romans, die, französischstämmig, im kolonialisierten Indochina der 30er Jahre eine amour fou mit einem Einheimischen eingeht. Anders, als es der Titel vermuten lässt, steht jedoch nicht ihr ebenso namenloser Liebhaber im Zentrum. Vielmehr entwickelt die Autorin das Bild einer dysfunktionalen Gesellschaft, die unter sozialen Konventionen und deren Auswirkungen leidet. Der Vater tot, die Mutter eine bipolar Gestörte. Der jüngere Bruder wird vom älteren geschlagen und stirbt früh. Die Protagonistin kann sich schlussendlich aus diesem giftigen Umfeld lösen und geht nach Frankreich.
Die zwei Welten dieser Geschichte spiegeln sich in der Musik von vietnamesischen Gesängen einerseits und Musik von Debussy, Ravel, Boulanger, Unsuk Chin und Chopin wider. Die Namenlosigkeit, die Individualisierung grundsätzlich entgegenwirkt, wird in dieser Inszenierung durch die Ausstattung aufgegriffen (Bühne, Kostüme: Michaela Springer, Marvin Ott). Eine leere Bühne vor einem dunklen, geheimnisvollen Fluss. Die Kostüme grau, fast schmutzig. Nur die junge Frau trägt ein hautfarbenes Oberteil, hell, aber eben nicht bunt, eine Weiterentwicklung der Kleidung ihrer Mutter. Diese sichtbare Verbindung geht noch weiter. Während die junge Frau im Roman Schuhe aus Goldlamé trägt, glitzern die Enden ihrer Hosenbeine hier sanft goldfarben. Ihrer Mutter hingegen bleibt nichts anderes als verschmutzte Hosenbeine. Diese Andeutungen funktionieren hier auf der Bühne auf die gleiche Weise wie im Roman, indem sie vor allem Atmosphäre schaffen. Das gelingt auch über Regengeräusche; ein bisschen Farbe kommt nur durch Lichtstimmungen ins Spiel. Selbst der notorische, rosenholzfarbene Männerhut, den die junge Frau bei der ersten Begegnung mit ihrem späteren Liebhaber trägt, bleibt hier blass. Nichts sticht aus der Masse hervor.
Was sich zwischen den beiden Liebenden (wunderschön: Sandra Bourdais und Maurus Gauthier) entwickelt, kippt beständig von einem Extrem ins andere. Halb zog sie ihn, halb sank er hin: Diese junge Frau ist voller Kraft, aber zu jung an Jahren, diese Kraft unter Kontrolle zu haben. Er leidet unter der Übermacht seines Vaters. Goecke findet dafür so simple wie überzeugende Entsprechungen. Ein paar Schritte gehen beide gemeinsam, dann vergrößert sich der Abstand zwischen ihnen. Scheint sie ihm noch eine Weile hinterherzulaufen, wird im nächsten Moment deutlich, dass er vor ihr flüchtet. Mal scheint es Spiel, dann leidenschaftlicher Ernst.
Das ist grundlegend für den Roman wie für diese Arbeit. Es ist die Isoliertheit der Individuen. Alle bleiben sich fremd, zuvorderst die junge Frau und ihr Liebhaber. Es wäre zu einfach, die beiden als zwei Königskinder zu lesen, die Opfer der Umstände werden. Es ist, wie es ist. Es ist ohne Ausweg. Die Frage nach möglicher Schuld stellt sich so nicht. Oder, wie es im Roman heißt, „kein Frühling, keine Wiederkehr“.
Marco Goeckes getriebenes, bekanntlich fiebrig wirkendes Bewegungsmaterial ist die ideale Voraussetzung für seinen psychologisierenden Ansatz. Dank der ausgezeichneten kameratechnischen Einrichtung ist es hier gelungen, diese Psychologie sichtbar zu machen. Die Kamera lässt Nähe zu, wie sie vor Ort nicht möglich ist. Dadurch wird die Mimik der Tänzer zu einem entscheidenden Teil des Ausdrucks. Die starren Hände werden gleichzeitig zum Symbol der tatsächlichen Unmöglichkeit einer erfolgreichen Umarmung als Ausdruck innerer Verbindung. Die kongenial exzellente Kompanie, die man sich für andere große Häuser nur wünschen könnte, tanzt auf höchstem Niveau, fast ist es egal, wer die Hauptrolle tanzt, denn hier spielt das Ensemble eine große Rolle. Es gibt hier, keine Abgrenzung zwischen den großen Solo-Partien und dem Ensemble. Das wird in der Gleichheit der Kostüme und in der Namenlosigkeit aller sichtbar. Es ist also keine Geschichte der jungen Frau und ihres Liebhabers, sondern eine Geschichte der Gesellschaft, mit einzelnen Schlaglichtern.
Auch, wenn die Kamera durch die Auswahl der Bildausschnitte und des jeweiligen Fokus eine gewisse Lesart vorgibt, handelt es sich doch auch dabei um einen künstlerischen Ansatz, der als verlängerter Arm der auf der Bühne sichtbaren Arbeit gewertet werden kann. Diese Verbindung zwischen Choreografie und Umsetzung für das Publikum am Bildschirm ist ausgezeichnet gelungen. Gott bewahre, dass sich hier die (technische) Zukunft des Tanzes zeigt. Aber es ist eben die Gegenwart. Und die lässt sich auf solche Weise tatsächlich genießen.
Die Aufzeichnung steht noch bis zum 27.03.2021 in der Mediathek zur Verfügung.
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