Liebestreiben findet jähes Ende
Gefeierte Premiere des Tanzstücks „Love Letters“ von Wagner Moreira im Regensburger Antoniushaus
Porträt von Wagner Moreira, Leiter der Sparte Tanz und Chefchoreograf am Theater Regensburg
„Der Papa ist schuld!“ Vor über drei Jahrzehnten hat er seinen Jungen dazu motiviert, „es doch einmal zu probieren“ – mit dem Ballettunterricht. Sohnemann Wagner Moreira hatte nachts heimlich ferngesehen. Dabei hat er Fred Astaire entdeckt, wie dieser mit seinem virtuosen Stepptanz Geschichten erzählt. Davon richtig angefixt wollte Moreira Schauspieler werden. Dazu aber, stand für ihn ohne Zweifel felsenfest, müsse er erst Stepptanz lernen. Also stellte er sich in einer Tanzschule seiner Heimatstadt Barbacena vor und wollte steppen lernen. Dazu müsse er zunächst zwei Jahre Ballett lernen, meinte taktisch klug die Leiterin. Ihr ging es darum den ersten Jungen, der sich je zum Tanzen angemeldet hat, an die Schule zu binden.
Erst der Papa mit seinem vorsichtig formulierten Ansporn setzte die eigenen Vorbehalte und erwarteten Vorurteile außer Kraft. Ein Vierteljahrhundert später widmete ihm der mittlerweile als Tänzer und Choreograf erfolgreiche Sohn das Solo „I play d(e)ad – der Tod gehört zum Leben“. Damit stellt sich der neue Chef der Sparte Tanz am Theater Regensburg dem Publikum am 25. September vor. Inhaltlich ein schwerer Brocken, verarbeitete Moreira in dieser Soloperformance den Freitod des Vaters vor 23 Jahren und reflektiert zugleich auf seine eigene Rolle als Vater zweier Töchter.
Nach der Uraufführung vor fünf Jahren im Projekttheater Dresden wurde er dafür mit dem sächsischen Tanzpreis „Ursula-Cain-Förderpreis“ ausgezeichnet. „Heute,“ beschreibt er sein Verhältnis zu dem Stück, „wird es beim Tanzen immer leichter. Nicht unbedingt körperlich, aber geistig“. Im emotionalen Spagat zwischen dem Tod des Vaters und dem eigenen, denn Moreira will auch das Sterben lernen, eröffnet er zu Musik von Erik Satie ein poetisches Szenario über Pietät und Demut, Entschlossenheit und Lebensfreude und streift dabei die großen philosophischen Fragen unseres Lebens.
Zwischen diesen beiden Ereignissen liegt ein Weg, der den brasilianischen Jungen zum Studium nach Europa führte. Hier arbeitete und studierte er an verschiedenen Theatern, Hochschulen, wie der Royal Academy of Dance in London, und bei freien Kompanien als Gastdozent, Performer und Choreograf. Als jugendlicher Ballettschüler allerdings musste er zunächst die scheelen Blicke und spöttischen Kommentare seiner Mitschüler*innen verkraften. Das änderte sich schlagartig, als sein Bild in der regionalen Tageszeitung auftauchte und er damit zum Star seiner Schule aufstieg. Erste Engagements, die er mit Tschaikowskis Märchenballett „Der Nussknacker“ und sogar in Europa hatte, festigten seinen Ruf und den eigenen Stolz auf das Erreichte. Gleichzeitig entwickelte sich daraus ein Thema, das Moreira bis heute beschäftigt und begleitet – das Tabu.
Anfänglich überzeugt, dass er Tabus einreißen und umstoßen müsse, änderte sich seine Einstellung schon bald. Der Tod, das Sterben, die eigene Sterblichkeit oder die sexuelle Präferenz eines Menschen gehören in die Öffentlichkeit, ist Moreira überzeugt. Über diese Themen müsse gesprochen und diskutiert werden. Ganz so, wie er es mit seiner Soloperformance „I play d(e)ad“ intendiert hat und damit immer wieder Diskussionen auslöst.
Auch in anderer Hinsicht geht sein Verständnis von künstlerischer Arbeit weit über die Grenzen eines Theaters, einer Institution, einer klar definierten Bühne hinaus. Regelmäßig dehnt er den Tanz in die Öffentlichkeit, die Stadt, den Raum um sich und uns herum aus. Zum Auftakt in Regensburg zielt Moreira darauf mit dem neuen Tanzensemble den Stadtraum zu erobern. „Massa Mobil“ findet an verschiedenen Standorten in der Stadt statt, bezieht Kinder, Jugendliche und andere Zuschauer mit ein. „Eine Einladung zum Tanz“, sagt Moreira. „Das wird bunt, spielerisch. Poesie im Alltag.“
Zwei Schritte zurück: Nach einem weiteren Studium an der Palucca Hochschule für Tanz Dresden absolvierte er den Master of Arts in Choreografie und die Meisterklasse. Dennoch sieht er sich als Künstler eher im Spannungsfeld von Straße, Bühne und den Menschen im Alltag, denn als institutioneller Choreograf. „Die beiden Personen auf der Straße“, deutet er durchs Fenster des Theatercafés, wo das Gespräch stattfindet, „es könnte ein Tanz sein, wie sie mit Schirmen aufeinander zu- und aneinander vorbeilaufen“. Moreira sieht die Welt und Menschen darin als Tanz, in dem sie sich ausdrücken. Mit Begeisterung und funkelnden Augen erzählt er von Experimenten mit einem roten Kleid, die er in einem städtischen Linienbus von Barbacena gemacht hat. „Du darfst tanzen, wenn ich stehe“, hat ihn der korrekte Busfahrer instruiert, „wenn ich aber fahre, setzt du dich auf deinen Platz!“
Mit dem neuen Ensemble „stehen wir nicht oben auf der Bühne und das Publikum sitzt unten“, erläutert Moreira seinen sozial-integrativen Ansatz. Als Menschen „sind wir Teil der Gesellschaft. Kunst, das ist für mich ein sozialer Weg.“ Zugang zum Theater, zur Kunst und zum Tanz sowie Zugehörigkeit zu einer (Stadt-)Gesellschaft bedingen einander. Dazu gehört auch, dass Moreira künftig auch mit „nicht-normativen Tänzer*innen“ arbeiten will, wie er Menschen mit einem Handicap nennt. „Inklusion, Zugänglichkeit, Mobilität und Interdisziplinarität sind in meiner künstlerischen Praxis eine Selbstverständlichkeit geworden.“ Ein wenig wird das noch dauern, denn in der ersten Spielzeit steht zunächst das Zusammenwachsen mit der Compagnie an.
Info: Seit 2014 ist er Mitglied des inklusiven Un-Labels PAC/Köln. 2019 rief er zusammen mit der Choreografin Helena Fernandino das Format C.O.R.E. (Creating Opportunities of Research & Explorations) & CORE DANCE PROJECTS ins Leben. Wagner Moreira ist als Choreograf, Gastdozent und Performer in Deutschland, Belgien, Brasilien, Griechenland, Italien, Tschechien, Türkei, Schweden und USA tätig.
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