Ein Panoptikum der Sinne
Fotoblog von Dieter Hartwig
Ihr neues Stück heißt „I Feel You“. Es sei eine „Choreografie der Empathie“, liest man im Begleittext. Ist dieses Projekt Ihre Antwort auf Corona?
Nicht direkt, der Titel beschreibt mehr meine Arbeitsweise, nämlich Mitgefühl zu zeigen, und das in einer Zeit, in der scheinbar nur der Stärkere überlebt. Wir sind alle fragil, die teils langen Schließphasen haben bei Vielen Depressionen und Verzweiflung ausgelöst. Wie kann man danach in eine Welt neu einsteigen? Besonders außerhalb Europas hat sich alles stark verändert. Ich arbeite auch in Südafrika, und dort ist im täglichen Leben vieles kaputtgegangen, das Land ist heute ärmer als vorher.
Die Choreografie sei mit Hilfe neurophysiologischer Erkenntnisse entstanden, heißt es im Text weiter. Was bedeutet das?
Spiegelneuronen schaffen eine direkte Verbindung zwischen Sender und Empfänger einer Nachricht: Der Spiegeleffekt kommt zum Tragen, wenn die Gestiken eines Individuums ohne jegliche kognitive Aufbereitung vom Betrachter verstanden werden. Wenn beispielsweise einige aus Vorsicht Pasta und Klopapier hamstern, imitieren rasch andere den Prozess und kaufen auch auf Vorrat. Ein anderes Beispiel: Ich musste weinen, weil meine Mutter mich nicht mehr erkannte, sie weinte daraufhin ebenfalls, ohne zu wissen warum.
Noch ein Wort zum neuen Stück?
Es handelt sich um eine 70-minütige Mischung aus Performance und Installation. Wir werden in dem weiten Raum keine Tribüne haben, sondern mehrere Spielorte, zwei Aktionen finden simultan statt. „I Feel You“ ist daher nicht zuletzt eine Kollaboration mit dem Raum und mit Licht in einer eher fragmentarischen Dramaturgie. Die Zuschauer*innen können umherwandern, es wird nur 80 tragbare Campingstühle geben, obwohl der Saal eigentlich 180 Besucher*innen fasst.
Die ARTIS HALLE ist ein ungemein interessanter Spielort. Weshalb bleibt er nur noch bis Juli nutzbar?
Wir sind erst mal dankbar, dass wir hier, in dieser ehemaligen Holzwerkstatt, proben und spielen dürfen. Es ist ein großzügiger Raum mit Holzwänden und starkem Hall, perfekt für Projekte unserer Art. Die Eigentümer haben bis jetzt im ersten Stock hinter Glas ihre Büros und nehmen geduldig unseren Lärm beim Einstudieren in Kauf, möchten aber künftig auch die Halle als Büro nutzen.
Noch einmal jedoch spielen Sie hier, wenn ab 6. Juli „Stages of Crisis“ gezeigt wird.
Unser Stück lief 2013 unter dem Titel „Forest: The Nature of Crisis“ und verhandelt romantische Assoziationen des Waldes etwa über die Märchen der Gebrüder Grimm, ebenso Spekulationsblasen und Wirtschaftskrisen. Themengerecht fand es damals als vierstündiger performativer Spaziergang durch den Berliner Müggelwald mit unterschiedlichen Spielstationen statt. Die Bühnenversion hatte ihre Uraufführung als digitales Streaming-Angebot im HAU Hebbel am Ufer und wurde auch beim Festival „Tanz im August“ gezeigt. In der ARTIS HALLE läuft sie nun in überarbeiteter Fassung. So passt beispielsweise der Glaskasten, auf dem oben agiert wurde, nicht in die Halle. Lediglich Elemente der Szenerie werden wir nutzen und eine Zuschauertribüne bauen. Diese Änderungen haben einen praktischen Effekt: Die Aufbauten sind kleiner und deshalb für Tourneen leichter transportierbar. Kein Veranstalter hat heute mehr Geld für drei Container voller Dekorationen. „I Feel You“ ist deshalb kleiner und tourneefreundlicher.
Wie schwierig waren für Sie die Corona-Schießphasen?
Nicht so schwierig, ich hatte zum Glück genug Arbeit. Direkt vor dem Lockdown haben wir „The West“ einstudiert, ein Stück um Exotismus als Projektion westlicher Wunschfantasien und ästhetische Ausbeutung des Fremden - übrigens unsere zweite Uraufführung für die Berliner Volksbühne. Mit einigen unserer Performer*innen und dem dortigen Theaterensemble habe ich in dieser Zeit ein Stück am Schauspielhaus Düsseldorf entwickelt. Danach war ich nach Santiago de Chile eingeladen, wohin ich zwei Tänzer mitnehmen konnte, und habe zudem für einen Film choreografiert.
Die Corona-Hilfen waren nützlich, das Nationale Performance Netz als Förderprogramm half uns, vieles musste verschoben werden, und dennoch sind wir trotz mehrerer Corona-Infektionen in Ensemble und Büro gut über die Runden gekommen. Allerdings gibt es 2022 weniger Gastspiele: nach Mailand ins Piccolo-Theater, nach New York in die Brooklyn Academy of Music und zur Ruhrtriennale. Austausch mit anderen ist immer anregend, deshalb sind Gastspiele so wichtig.
Nach welchen Kriterien suchen Sie Ihre Tänzer*innen aus?
Momentan haben wir fünf festangestellte Performer*innen mit - sehr wichtig - ganz unterschiedlicher Persönlichkeit, die in allen Stücken besetzt sind. Manche arbeiten schon recht lange mit mir. Mein Wunsch wären acht feste Ensemblemitglieder. Wir veranstalten nicht viele Castings, nur, wenn ein besonderer Typ gesucht wird. Ansonsten habe ich einen Pool von Freien, aus denen ich je nach Stück Gäste einlade. An den Stücken sind immer außer Performer*innen auch Musiker*innen beteiligt, ich arbeite gern mit einer konstanten Mannschaft und entwickle mich gemeinsam mit ihnen. So lernen Tänzer*innen zu singen, wovor sie sich oft erst mal scheuen.
Ein bisschen Biografie?
In meiner Heimatstadt Buenos Aires habe ich Tanz und Modedesign studiert und dann in den New Yorker Studios von Merce Cunningham trainiert. Er selbst war so abgeschirmt, dass man mit ihm nicht sprechen konnte, zumal er auch selbst schon mehr Distanz zu den Studierenden hielt: eine Ehrfurcht gebietende Legende. Seit 1995 war ich Tänzerin in Berlin, so bei Alex B und Cesc Gelabert, habe 1997 meine erste Gruppe gegründet, Tamagotchi Y2K, und mit ihr Stücke kreiert. Tamagotchis waren damals sehr populäre japanische Digitalspielzeuge, mit denen man virtuelle Tiere betreuen konnte. Als wir 2003 eine Produktion über den Weltraum und seine russische Nutzung gemacht haben, fand das jemand dorky, und so ist unser heutiger Name Dorky Park entstanden, im Wortspiel mit dem berühmten Moskauer Gorki-Park. Unser Repertoire umfasst bis jetzt mehr als 30 Stücke.
Was bewegt Sie in dieser Welt am meisten und spiegelt sich daher in Ihren Stücken wider?
In meine Arbeiten fließen Theater, Text, Tanz, Videos und Bilder ein, sie sind so eine Art Gesamtkunstwerk. Mich interessieren Städte, urbanes Leben und wie Architektur unsere Bewegungen und unser Denken beeinflusst. Architektur kann ein Instrument von Macht und Politik sein. Insofern hat meine Arbeit immer auch eine politische, eine sozialpolitische Seite. Auch meine Performer*innen und ihr Leben inspirieren mich, wir haben ja schon eine lange Beziehung. Ich lese viel. Und mich fasziniert das Phänomen Zeit.
Sind Ihre Stücke eine Bestandsaufnahme unserer Welt, auch eine Abrechnung mit ihr?
Sie müssen zumindest etwas mit dem betreffenden Land und der Zeit zu tun haben. In jedem Fall bin ich beeinflusst von der Welt. Ich muss am jeweiligen Entstehungsort des Stücks sein, herumlaufen, beobachten, erfahren, was dort im Moment läuft. So entwickelt sich die Idee zu einer Produktion. Sie darf aber nicht pädagogisch sein, soll das Publikum neugierig machen.
Gibt es wiederkehrende Kernthemen?
Gentrifizierung könnte ein solches Thema sein und wie Länder durch Kolonialismus und Imperialismus geformt sind und umgeformt wurden. Eines der Stücke verhandelt mit Roma-Spieler*innen und -Musiker*innen und unserer Company das Schicksal der Roma, ihre Wanderung, die europaweiten Vorurteile gegen sie. Sicher bin ich auch von Kurt Jooss beeinflusst, der ja nach Südamerika emigriert war und dort Spuren hinterlassen hat.
Aber Ihre Stücke sollen auch unterhalten?
Unbedingt. Ich bin ernst in der Arbeit, doch man darf sich selbst nicht zu ernst nehmen, muss durchlässig bleiben. Die Stücke sind mein Versuch, die Welt zu verstehen. Auch Tragödien haben schließlich einen dunklen Humor, er ist ein Teil von Intelligenz. Die Stücke leben auch durch die Personalität der Tänzer*innen, sie sollen sich gut darin fühlen. Aus persönlicher Erfahrung als Tänzerin glaube ich nicht an Autorität und Druck als kreativen Motor.
Hat sich in den gut 25 Jahren Ihrer Tätigkeit als Choreografin Ihr Blick auf Theater, die Welt verändert?
Social Media und der Siegeszug des Digitalen machen es schwer für das Theater. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer*innen hat sich verändert: Sie wollen nicht mehr so lange sitzen, sind geprägt durch die vielen Internet-Plattformen und Netflix-Serien. Jugendliche wachsen damit auf, sind begeistert davon. Wie begeistern wir die Menschen da wieder für Theater?
Sie haben 2008 den wichtigen Theaterpreis DER FAUST gewonnen, 2021 den Tabori Preis. Was bedeutet Ihnen das?
Es ist eine schöne Anerkennung der Arbeit, stärkt die Position und bezieht die gesamte Company ein. Außerdem hilft es ebenso wie Tournee-Erfolge bei Förderanträgen, von deren Zusage man abhängig ist.
Sie bezeichnen Dorky Park als Repertoire-Company.
Man investiert viel in die Stücke. Sie werden interessanterweise oft besser mit der Zeit. Und bestimmte Themen wie Krieg, Ängste, Ökonomie, Ökologie veralten nicht.
Ein kurzer Ausblick auf nächste Projekte.
Im Oktober 2022 starten wir mit Proben für die neue Produktion an der Volksbühne, mit der uns eine gute Zusammenarbeit schon seit Jahren verbindet; die Erstaufführung wird voraussichtlich im Januar 2023 sein. Meine „Carmen“-Inszenierung am Theater Basel wird dann 2024 Premiere haben.
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