„Sunscreen“ von Nadav Zelner 

„Sunscreen“ von Nadav Zelner 

Internationalität vom Feinsten

TanzArt ostwest im Harz mit drei internationalen Galas

12 Ensembles hatten Tarek Assam und sein Team für die Galas in Halberstadt, Quedlinburg und Bernburg eingeladen. Das Harzer Publikum tauchte in jeder Stadt in eine Vielfalt choreografischer Handschriften ein.

Quedlinburg, 13/06/2023

Klatschmohn und Kornblumen. Wild und dicht stehen sie nebeneinander auf einem Streifen am Rand der pittoresken Altstadt von Quedlinburg. Die Welterbestadt zählt zu den schönsten kleinen Städten in Deutschland und sie liegt da, wo Deutschland noch deutscher erscheint als anderswo, nämlich im Harz nördlich des gleichnamigen Mittelgebirges in Sachsen-Anhalt. Es sei ein „Land mit großem kulturhistorischem Reichtum und einer bunten kulturellen Landschaft“, schreibt der Staatsminister und Minister für Kultur Rainer Robra im Vorwort eines Hochglanz-Magazins, das man in Quedlinburg Jahre nicht gesehen hat: dem TanzArt Magazin. Dorthin hat es etwa das gleichnamige Tanzfestival nicht verschlagen, sondern es ist vielmehr an seinen Ursprungsort zurückgekehrt. Tarek Assam hat hier vor über zwanzig Jahren das erste „TanzArt ost west“-Festival in Form einer Gala ins Leben gerufen. Am Samstagabend stand Assam wieder auf der Bühne in Quedlinburg und moderierte und sprach zu Recht von der Zeitgenossenschaft des Tanzes.

Man möchte als Kritikerin jetzt nicht mit den „blühenden Landschaften“ anfangen, die einst Helmut Kohl vor vielen Jahren für die neuen Bundesländer vor seinem geistigen Auge gesehen hatte. Für den Tanz aber lohnte es sich, die kraftvolle Metapher hervorzukramen: Das als erstes zeitgenössisches Tanzfestival Sachsen-Anhalts zurückgekehrte, jetzt groß gewordene „TanzArt ostwest“-Festival mit weiteren Standorten in Koblenz und im belgischen Eupen könnte hier tatsächlich in den nächsten Jahren auf neue und spannende Weise wirken. Man versteht das in vollem Umfang erst in Quedlinburg und ahnte es schon am Abend zuvor in Halberstadt. Denn beide Städte tragen wie andere um sie herum das aufreibende und folgenreiche Hin und Her zwischen Ost und West tief in ihrer Stadtgeschichte mit sich. Kaum einer weiß, dass sie infolge eines geheimen Gebietsaustauschs zwischen den Briten und den Sowjets 1945 letzten Endes Teil der DDR geworden waren, obwohl sie ursprünglich in der britischen Besatzungszone gelegen hatten.

Allein dadurch wird der symbolische Ansatz des Festivals spürbar: zwischen „ost“ und „west“ tanzend etwas zeigen zu wollen, in Austausch zu bringen und sich so trotz und wegen Gegensätzen miteinander zu verbinden. Konkret vermag dieses Festival den Städten im Harz im Bereich des Tanzes wirklich Identität zu verschaffen. Es vernetzt sie mit dem mittlerweile gesamteuropäischen, bis nach China und Japan ausgreifenden Kulturaustausch-Projekt, das „TanzArt ostwest“ und öffnet im wahrsten Sinne des Wortes immer neue Perspektiven: Ständig ist man hier unterwegs, durchpflügt von Spielort zu Spielort die weite Landschaft, deren Schönheit wahrlich betörend ist.

Internationalität vom Feinsten

Zwölf Ensembles aus dem über hundert Kompanien und Persönlichkeiten umfassenden Netzwerk hatten Assam und seinem Team für 2023 für die Galas, die am Freitag, Samstag und Sonntag in Halberstadt, Quedlinburg und Bernburg stattfanden, zugesagt. Parallel fand die TanzArt-Gala in Koblenz statt, in wenigen Tagen startet sie in Eupen mit weiteren Ensembles und Kompanien. In Quedlinburg erlebte man Internationalität vom Feinsten. Das Harzer Publikum tauchte in jeder Stadt in eine Vielfalt choreografischer Handschriften ein, die unangestrengt von anderen Kulturen zwischen „ost“ und „west“ erzählten. Dass man dabei mit dem einen Stück eher fremdelte oder ein anderes gegenüber etwas abfiel, gehörte dazu. 

Einen fast intimen Auftakt gestalteten Anri Hirota und Ginjo Sakai von der Japan Contemporary Dance Company. Ganz allein taucht die Tänzerin auf der Bühne auf, und malt nur wenige Bewegungen in die Luft: eine Hand in den Nacken. Eine Bodenrolle. Weite Armkreise. Es sind Bewegungen, die von der psychischen Anwesenheit eines anderen erzählen. Davon, dass er schon längst im Körper der Figur ist. Als sie zu zweit auf der Bühne sind, erzählt dieses feine und herausragende Duett von einer toxischen Beziehung. Befreien vermag sie sich nicht. Wieder legt er ihr am Schluss die Hand in den Nacken. 

Ebenso großartig überzeugte das Duett „Le Regarde que je garde pour moi“ von Irene Kalbusch von der Cie. Irene K in Eupen. Auch Ilke Teerlinck betritt allein die Bühne, im blau geblümten Mädchenkleid und Ledertanzschuhen, die Haare offen. Seitlich hat Shana Mpunga mit seinen Trommeln Platz genommen. Die folgenden Bewegungen sind so gestaltet, dass man, angetrieben von den Schlägen von Mpungas Hand auf die Drums, immer ihren Füßen in den Schuhen folgt. Sie wirkt authentisch und zugleich puppenhaft. Assoziativ dockt man an jene signifikanten Frauenfiguren an, die in Märchen in Schuhen tanzten oder tanzen mussten, auch wenn dieses Stück eine andere Geschichte erzählt. Als Gold Mayanga in lockerem Hemd und Hose auftaucht, sieht er sie und tanzt mit ihr. Er hebt sie, trägt sie, wirft sie. Leicht wie das Schlagen von Schmetterlingsflügeln zeigen sich die verschiedenen Phasen einer schönen Liebesbeziehung. Berührt und atemlos verfolgt man, wie die Frische der gefundenen Hebungen und Bewegungen und deren klare Orchestrierung in Gesten, Blicke, Nähe, Moves und Flows das Duett trägt.

Chen Yufei von der Shenzen Arts Company in Südchina entführte anschließend in eine andere Welt. Groß, schmal und athletisch bewegt sie sich zu hämmernden Beats wie ein Insekt am Boden. Markant: Man sieht ihr Gesicht nicht. Stattdessen blickt man auf einen knallroten Kreis mit einer runden Erhebung. Auf ihrem Körper entdeckt man rote Streifen. Was zunächst geheimnisvoll wirkt, führt am Ende zu einem Gefühl von Betroffenheit. Das eigentümliche Solo führt, aus europäischer Perspektive, das Schwinden von Individualität vor.

Thematisch in dieselbe Kerbe schlägt die intelligent gearbeitete Kreation „Sine Tactu“ der Compagnia Atacama aus Rom. Drei Frauen und ein Mann in weißen wehenden Röcken drehen sich lächelnd wie Derwische des 20. Jahrhunderts im Kreis, nur führt ihr Weg nicht in die Transzendenz, sondern in die digitale Welt der Selbstbespiegelung. Nicholas Baffoni zückt das Handy und filmt. Am Ende ist er ganz allein und schaut erwartungsvoll zum Publikum.

Auf pure Trommelschläge setzt das slowenische Ensemble Alma Mater Europeaseine Kreation „Colores mecum port“. Inspiriert von Werken des MalersJoze Kotar zünden die drei Tänzerinnen eine unverständliche, wenn auch kraftvolle Kreation, die vor allem archaisch wirkte.

Nur die Choreografie von Laura Corradi „Vita, Morte e Miracoli" über Bilder und Visionen von Pier Paolo Pasolini fiel im ersten Teil der Gala wegen zu Schwülstigkeit und mangelnder Stringenz in der Choreografie ab.

Neoklassischen Stil bot Steffen Fuchs in dem spannungsvollen Duett „Skin“, das dann doch, ohne den Kontext des ganzen Stückes, dem es entnommen wurde, „The sadPark“ etwas aus der Zeit gefallen wirkte.

Tarek Assam selbst ließ dann ein Männerduett aus seiner „Bergpredigt“-Choreografie „Oratio in Danza“ tanzen und begeisterte erneut mit überraschenden Wendungen und unverbrauchten Bewegungen, die seinen Stil kennzeichnen.

Den Vogel schossen schließlich die zwölf Tänzer*innen der Zürcher Hochschule der Künste ab. Sie tanzten in halber Besetzung Nadav Zelner verrückt wirkendes Stück „Sunscreen“, kreiert 2022. Alle gekleidet in gelbe Tops und Unterhosen und meistens synchron tanzend fuhren sie in irrem Tempo mit einer Choreografie auf, die weder die Zehen noch die Finger noch die Mimik verschonte. Jung, frech und überkandidelt, voller Zitate auf synchron orchestrierte gesellschaftliche Gruppenbilder, wogte das Stück feixend und wie kichernd über die Bühne – „fast dance“ statt „fast food“. Zum Schluss standen sie so dicht und wild strahlend wie der Klatschmohn und die Kornblumen beieinander, nur in klirrendem Gelb.

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