Die Welt zu Gast im Harz
Erste Ausgabe von Tanzart Ostwest in Sachsen-Anhalt gestartet
Zum 26. Mal lädt Tarek Assam, seit 2022 Ballettdirektor am Harztheater, zum TanzArt ostwest festival.
Die Anreise am ersten Wochenende hat sich wieder gelohnt. Vier bestechende Uraufführungen von Paul Julius, Juan Tirado, Gianni Cuccaro und Tarek Assam, getanzt im Dom zu Halberstadt inklusive einer Werkschau als Lecture von Assam persönlich haben die jahrhundertalte Basilika unmittelbar mit Licht, Musik, Körper, Bewegung, Energie und Dynamik in Kontakt gebracht und für Momente in ein Haus der radikalen Gegenwart verwandelt. Die mittlerweile legendäre Tanzgala in drei Städten mit drei verschiedenen Programmen, das insgesamt sechszehn Mitglieder des großen TanzArt ostwest-Netzwerkes bestücken, steht hierfür schon in den Startlöchern.
Samstag, 1. Juni.
Es ist kühl im Kreuzgang. So kühl, dass die Menschen zügig in die Wiesenidylle weiterziehen, die der Kreuzgang durch seine zahlreichen offenen Rundbögen an vier Längsseiten wie aus großen Augen anschaut. Es gibt dort in der warmen Sonne Bier, Bratwurst und hohes Gras, und die Musik und die Bilder, die eben noch den unteren Kapitelsaal erklommen haben, können dort verdaut werden. Es waren unmittelbar lesbare, kraftvoll dahinfließende Bilder, die man gesehen hatte. Bilder über Menschen, Emotionen, Zustände und Beziehungen zueinander, eigens kreiert für diesen besonderen Ort im mächtigen Kirchenbau und individuell und ausdrucksstark getanzt von Cristian Colatriano, Daniel Moret Chanzá, Aurora Falsetti, Caterina Cerolini und Federica Poma. Das Domkapitel hat dort, wo sie wie in ihren weißen Hosen und tiefblauen Hemden wie gleißendes Licht auf azurblauem Meer einander verfolgten und sich aufeinander einließen, frei und doch verbunden, einander beobachteten, sich voneinander isolierten und sich dann wieder umarmten, miteinander gingen und gemeinsam bewältigten, in seiner fernen Vergangenheit seine Sitzungen abgehalten. Heute wären das die Meetings der Leitungsrunden, doch zum Glück ist diese Welt hier fern und der Tanz entführt in seine eigene Gegenwelt, getragen von der Uraufführung der Klavierkomposition des aufstrebenden jungen Komponisten Johannes Wasikowski, der in Halberstadt geboren ist. Es sind fließende und träumerische Klänge dennoch mit einem Schuss Nüchternheit, die die Choreografie von Gianni Cuccaro perfekt tragen. Diese geht auch markant mit dem Raum um. Die Tänzerinnen und Tänzer gehen mit Händen, Füßen und Torso direkt in Kontakt mit den geschichtsbeladenen Steinen an Wänden, Säulen und Boden, und es scheint dadurch, als ob sie zu schweben beginnen.
Unerwartetes Highlight
Dieses kleine, siebzehnminütige Werk mit dem Titel „In_Cantus“ ist ein unerwartetes Highlight. Es setzt wie ein Epilog das herausfordernde Gesamtkunstwerk „Tanze alle Welten“ fort, das am Abend zuvor zur Eröffnung im Dom vor dem Altar einmalig getanzt worden war – ein gemeinschaftliches Gesamtkunstwerk, das tänzerisch, musikalisch und atmosphärisch die Welt mit ihren vielen Künsten und Kulturen, aber auch Brüchen und unerträglichen Anspannungen in den Dom heimholte. Viel Politik war zur Eröffnung des TanzArt ostwest-Festivals beziehungsweise der Domfestspiele erschienen, mehr als vor einem Jahr, vom Oberbürgermeister Daniel Szarata über den Landrat Thomas Balcerwoski bis zu Dr. Eike Henning Michl, wissenschaftlicher Direktor der Kulturstiftung Sachsen-Anhalt. Kunst und Kultur müssen von ihnen gerade vor dem Hintergrund der Europa- und der Kommunalwahlen als wichtiger Faktor im „Wettbewerb der Regionen“ und „Standortfaktor zur Verbesserung der Lebensqualität“ gelobt werden. Das tat dem Tanz gut. So gut wie „In_Cantus“ den begeisterten Menschen im Kreuzgang gutgetan hat.
Abbildung der Realität: Juan Tirados „El disgenio“
Was zeitgenössischer Tanz ist, zu welcher Form und Aussage er heute findet oder was damit zu fördern ist durch eine sachsenanhaltinische Schwerpunktentwicklung in Sachen Kunst und Kultur, das vermittelte auf brisante Weise Juan Tirados „El disegnio“. Es gibt in „El disegnio“ keine Weichheit mehr, dafür Verletzbarkeit. Keine Ordnung mehr, dafür Disbalance. Auch keine Gelassenheit, sondern dumpfes Niedergedrücktsein. Schon gar keine Individualität, sondern Durchkommen müssen, gemeinsam als Gruppe, in der die Wut bereits brodelt. Oft sind die Rücken rund, zeigen die Oberkörper nach unten und werden gepeitscht und getrieben von den Rhythmen mitten hinein in rasches vorwärts, getragen von Laufschritten im Kreis, bevor sie sich wieder bündeln und verflechten und mit knappen, eng um den Körper geführten Bewegungen der Hände, Ellenbogen und Arme ihre Forderungen formulieren. Kämpferisch werden die Fäuste nach oben gereckt, sodann erobern die Beats und Grooves erneut die Körper, die ihre Bewegungen ganz im Inneren gebären. Turado kommt unübersehbar aus dem Street Dance und hat sich preisgekrönt auch das Feld des Zeitgenössischen erobert. Sein Werk, in dem sich gegensätzliche Kompositionen von Einojuhani Rautavaara, Max Cooper und Trentemöeller mischen, hat kathartische Wirkung. Man hofft gerade in der Kirche, die Welt taumele nicht weiter in das, was gerade auf der Bühne zu sehen war, auch wenn man weiß, dass hier gerade Realität abgebildet wurde.
Bedürfnis nach Schönheit: Paul Julius „Encounters“
Wie sehr der Mensch das Andere, das Schöne braucht, und wie politisch in diesem Hintergrund das Schöne deswegen wird, spürte man anhand des Raunens im Publikum nach dem ersten Stück „Encounters“ von Paul Julius, seit 2021 künstlerischer Direktor der Japan Contemporary Dance Company in Kawasaki. Geflüsterte Worte voller Poesie von einem lyrischen Ich, das weiß, dass „ewig jung nur die Sonne ist“ und das das Du sucht, wechseln sich ab mit Musik von Georg Friedrich Händel. Es entsteht ein Raum der Sehnsucht und doch der Ordnung, den der Tanz durch klare Formen und das Aufgreifen der Symmetrien in der Musik sichtbar macht. Das Bewegungsmaterial nutzt den großen Umraum aus, die Arabesken entfalten sich hoch und weit aus der neoklassisch geprägten Bewegungsstruktur heraus. Das Ensemble trägt schwarze Hosen, schwarze Trikots und man denkt an schwarzes Meer, auf das nachts der Mond strahlt.
Frenetisches Fest der Gemeinschaft und des Tanzes
Dass Tarek Assam es nach diesen beiden starken und gegensätzlichen Stücken schafft, den Ball aufzugreifen und dem Titel des Abends „Tanze alle Welten“ mit seiner Uraufführung „Ederlezi – Von Clowns und Träumen“ die Krone aufzusetzen, indem er eine Choreografie des Festes und der Ekstase, der Wildheit und der Sinnlichkeit nahezu explodieren lässt, ist großartig. Assam war in den vergangenen Wochen tief in Kunst, Kultur und dem nomadischen Schicksal der Sinti eingetaucht und hatte ihre Musik, vor allem von Goran Bregovic inhaliert wie das Salz in der Luft am Meer oder wie Regen an einem warmen Sommertag, dessen Tropfen, wie auch das Gewitter davor, den frenetischen Klangteppich, der sich sodann entfalten sollte, einläutete. Die Tänzerin Caterina Cerolini schloss dafür sinnbildlich die Augen und ließ sich mit sanften Bewegungen in eine Welt des Traumes hineingleiten, während das Ensemble um sie herum mit offenen Augen das Hier und Jetzt in zahlreichen aufeinander reagierenden Soli, dann Duetten, dann wieder Gruppenszenen feierte. Auch wenn sich seine Choreografie nach der Hälfte etwas verzettelte oder den Faden verlor, tat das der hohen Qualität dieser Gemeinschaft keinen Abbruch.
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