„Sternzeit – Planck Visionen“ von Tarek Assam, Tanz: Ting-En Chiang

„Sternzeit – Planck Visionen“ von Tarek Assam, Tanz: Ting-En Chiang

Zwischen Utopie und Dystopie

Gelungener Spielzeit-Auftakt von TANZ HARZ in Halberstadt

Gekonnt balanciert „Sternzeit – Planck Visionen“ zwischen Utopie und Dystopie, und man versteht erst nach dem Erlebnis dieser gespenstisch-schönen Aufführung, in welch düstere Zukunft dieser Ausflug führte.

Halberstadt, 17/09/2024

Ab ins All, dachte sich Tarek Assam, Leiter von Tanz Harz. „Sternzeit – Planck Visionen“, seine neue Uraufführung für Tanz Harz, erwies sich nicht nur als gelungener Start in die Spielzeit, sondern auch vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse im Weltraum als bestechende, aussagekräftige Tanz-Video-Performance über unsere Zeit. Und so saßen Samstagabend knapp hundert Zuschauer*innen in Halberstadt im dunklen Kammertheater und düsten mit den Mitteln der Kunst an der Milchstraße vorbei zu den Planeten. Während sich indessen nicht nur Privatpersonen der Menschheit einen erstmals selbst finanzierten, mehrtägigen Raketenausflug ins All leisteten, und gleichzeitig die Astronauten Butch Wilmore und Suni Williams erfahren mussten, dass sie wegen technischer Defekte statt in ein paar Tagen erst in gut einem halben Jahr auf die Erde zurückgeholt werden können. 

Psychisch aufgeladenes Spannungsfeld

Verhandelt wurde an Bord von „Sternzeit – Planck Visionen“ – inspiriert von der Forschungsarbeit des theoretischen Physikers Max Planck (1858-1947) und dem Denken des vor rund fünfhundert Jahren lebenden französischen Rationalisten René Descartes – das „psychisch aufgeladene Spannungsfeld zwischen unserer Sehnsucht nach einer digitalisierten Welt und unserer gleichzeitigen Angst vor einem Leben in dieser“, wie Assam und sein Dramaturg Marco Misgaiski schreiben. In der Angst vor dem Verlust des „Ich“ bündelt sich der tragische Konflikt wie unter einem Brennglas. Denn wie kann man dieses an Körper und Seele gebundene „Ich“ erhalten, wenn  man gleichzeitig längst als Klon, digitaler Avatar, innere und äußere Superhelden-Identifikation und als mathematisches Datenpaket im digitalen Universum nach Belieben Ort, Zeit und Gestalt wechseln könne, so Assam und Misgaiski.

Dass der Start in die Parallel-Universen Weltraum und Digitalität gelang, und einen das Stück spätestens nach der dritten Szene auch wegen seiner Spielfreude fest im Griff hatte, war angesichts des Themas und des multimedialen Ansatzes nicht selbstverständlich. Denn die digitale Welt mit ihren Pixeln, Zeichen, Bildern und Bewegungen ist so rasant wie der menschliche, analoge Körper im Raum im Vergleich dazu auffallend langsam ist, auch wenn schneidend-scharf wirkende und schnelle Bewegungen möglich sind. Ist Videodesign à la Lieve Vanderschaeve als raumkreierendes Element wie hier in Halberstadt mit einer unzähligen Fülle an Fraktalen im Einsatz, die Mega-Cities suggerieren, durch die man hindurch fliegt, riesige sich teilende Zellen, an denen man vorbei schwebt, oder an schwarzen Löchern vorbei mäandernde Sternhaufen, müssen Bewegung und Choreografie mithalten können, um nicht schwer oder altmodisch zu wirken. Gleichzeitig dürfen sie ihre genuin eigenständige, narrative Kompetenz nicht einbüßen, wie es manchmal der Fall ist, wenn im choreografierten Tanz bei solchen Themen zu einseitig auf Schnelligkeit und Dynamik gesetzt wird.

Postmoderner Zugriff

Und so wagte es Assam, statt mit betroffenem Gestus eher mit Witz, Ironie und markantem postmodernem Zugriff, dabei quer mit Elementen des Tanztheaters, des zeitgenössischen Tanzes, der Pop Art  und Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts spielend, von geschlechtslosen, selbst optimierten Figuren in schwarzweißen Ganzkörpertrikots zu erzählen, deren wichtigstes Körperelement eine Gehirnschale aus Plastik ist, mit der sie um ihr neues „Ich“ kreisen – mal wie bei einer Show, in der sie gleich zu Beginn des Stücks ziemlich lustig miteinander wetteifern, wer „super“ ist, während satter amerikanischer Blues aus den Lautsprechern tropft. Mal wie in einer eher abstrakten choreografischen Anordnung, mit der sie den Raum tänzerisch durchpflügen; mal wie ein sich selbst abhanden gekommener Haufen, der mit dem Wiederholen von „Ich bin“ oder Descartes „Cogito, ergo sum“ – „Ich denke, also bin ich“ - versucht, sich seiner selbst gewahr zu werden. Magische Moment gibt es vielfach: Etwa, wenn Tanz und Animationsfilme von künstlichen Mega-Cities miteinander verschmelzen oder wenn Marianna Pavento mit den Fingern fast verzweifelt auf Gehirn und Boden trommelt, wie um sich mit Daten zu versorgen. Umwerfend ist, als sich Caterina Cerolini mit klimpernden Augen und roboterhaften Bewegungen derart überzeugend in die Kunstfigur „Max“ verwandelt, die dann alle sein wollen, dass man fast Schauer empfindet, wie schnell das „Ich“ verschwinden oder sich in einem neuen aufzulösen vermag. Gekonnt balanciert „Sternzeit – Planck Visionen“ so zwischen Utopie und Dystopie, und man versteht erst zum Schluss nach dem Erlebnis dieser gespenstisch-schönen Aufführung, in welch düstere Zukunft dieser Ausflug führte. 

 

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