„Elektra“ von Tarek Assam, Tanz: Ting-En Chiang und Ensemble

Ohnmacht als stärkste Empfindung

Tarek Assam mit einer bezwingenden „Elektra“ am Harztheater Halberstadt

Was bietet uns Schutz vor Ignoranz? Vielleicht nicht zuletzt die Katharsis durch das Theater.

Halberstadt, 19/02/2024

Jede Gesellschaft hat ihre Tabus. Eines von ihnen besteht im Verschweigen von tödlicher Gewalt von Kindern gegenüber ihren Eltern. Um dennoch über Tabus sprechen zu können, hat die Menschheit den Mythos erfunden, und das Drama, um ihn aufzuführen. Indem das Publikum angesichts des Unvorstellbaren vor den eigenen Augen auf der Bühne starken Affekten ausgesetzt wird, erfahre es laut dem antiken Philosophen Aristoteles Katharsis - eine Reinigung und Läuterung seiner Seele. Es ist über zweitausend Jahre später unter anderem dem Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing zu verdanken, besser verstehen zu können, was Aristoteles mit der Katharsis durch die Empfindung von „Jammer und Rührung“ und „Schrecken und Schauder“ gemeint hatte. So sah Lessing Mitte des 18. Jahrhunderts in der Kraft des Mitleidens die entscheidende, verbindende emotionale Komponente. Indem es mitfühle und mitleide, fürchte das Publikum, dass sich das Schicksal der Heldinnen und Helden auf der Bühne im eigenen Leben wiederholen könnte, und nutze daher die Chance, sich selbst moralisch besser – „tugendhafter“ – zu finden.

Schutz vor Vernachlässigung und Kälte

Die Frage, ob auch Tarek Assams „Elektra“-Inszenierung, die vom Muttermord durch die Tochter erzählt, in diesem Sinne auf der Bühne überzeugt, lässt sich nach einer umjubelten Premiere am Wochenende am Harztheater mit einem klaren Ja beantworten. Nachdenklich macht dabei, dass als stärkste Empfindung Ohnmacht zurückbleibt und der Gedanke, dass man nur im eigenen täglichen Handeln dazu beitragen kann, dass Menschen gesehen und vor Ablehnung, Vernachlässigung, Ignoranz und Kälte geschützt werden. Das nimmt man mit, längst nachdem die Verve und Energie einer nicht einen Moment innehaltenden Choreografie verweht sind.

Wie erzählt Assam, der immer wieder starke Frauenfiguren in seinen Stücken kreiert, zuletzt in „Die Winterreise“, das Schicksal Elektras? Essenzieller Bestandteil seines Gesamtkunstwerks, das er erstmals kurz vor Ausbruch der Pandemie noch für das Stadttheater Gießen auf die Bühne gebracht und nun überarbeitet hat, ist die Auftragskomposition von Patrick Schimanski, dem es auf inspirierende Weise gelungen ist, Gitarrenriffs mit metallisch klingenden Soundflächen zusammenzudenken oder unregelmäßige Beatfolgen mit Sprachfetzen oder Tönen, wie man sie von ratternden Motoren oder Körpermessgeräten kennt, zu collagieren. Virtuose Wechsel zwischen den Passagen kommentieren nicht nur das bezwingende Bühnengeschehen, sondern treiben es ohne Brüche nach vorne.

Stärke und Geschlossenheit des Ensembles

Auffallend ist des Weiteren die Stärke und Geschlossenheit des Ensembles, das gerade dadurch sehr passend die ungute Atmosphäre zu modellieren vermag, in der Assam seine Elektra leben lässt. Assam hält es die ganzen fünfundsiebzig Minuten in Präsenz und Bewegung auf der Bühne. Mal sind sie nur zu dritt, mal zu fünft, mal zu acht. In der Hand werden immer wieder Äxte gehalten oder eingeschlagen. Nie gibt es ein Innehalten, ein Verharren, etwas wirklich Menschliches oder Zugängliches unter ihnen. Die Bewegungssprache betont stattdessen schnelle Arbeit am Boden. Fallen und Rollen werden zu Vorbereitungen für kurze eruptive Sprünge. Die Beine, Arme und Hände vollführen oft mit harter Kante klare Bewegungen des Hiebens, Schneidens und Trennens. Die Gesichter sind undurchdringlich und bewegungslos. Annett Hunger hat das ganze Ensemble raffiniert mit mehrlagigen Hosen, Röcken und Oberteilen aus fließenden Stoffen und schwarzem Leder ausgestattet, zudem mit weiten Kapuzen, die die Undurchschaubarkeit und Härte der Gestalten am Hof noch verstärken.

Mund unter Leder, der Blick in die Ferne

Spannend ist, dass sich Elektra, dargestellt und getanzt von Ting-En Chiang, kein Deut von den anderen unterscheidet, auch wenn man ihr von Anfang an ins Gesicht blickt, dessen Mund unter Leder verborgen ist. Stumm, voller Anmut, Schönheit, aber auch Zurückgenommenheit im Blick schaut einen ihr Halbportrait als Videoprojektion an, kaum sitzt man im Theatersaal. Dabei laufen Lichtlinien und Rechtecke wie ein Scanner über ihr Gesicht und ihren Körper. Sie ist unter Beobachtung in einer Gesellschaft, die selbst ihre Leichen im mit Rauchnebel angefüllten Keller hat, so das erste Bild, kaum wird die Projektion auf Halbhöhe gezogen. Ihr Video zeigt derweil ihren Rücken. Sie schaut in die Ferne, dorthin, wohin der Vater Agamemnon in den Krieg gegen Troja verschwunden war und sie zurückgelassen hatte. Man spürt ihre innere Verwirrung, Vereinsamung und beginnende Kälte.

Kein Entrinnen

Wenig später erscheint sie kurz auf der Bühne. Auch hier macht sich eine Person auf einem Laptop Notizen von ihr. Nie scheint es, weder für sie noch für das Publikum, ein Entrinnen von diesem ihrem Heimatort zu geben, der von silbernen Metallstäben rund um eine Rotunde in der Mitte gesäumt ist und der auch eine kalte, verlassene Bar von schlechter Atmosphäre im Keller eines Hauses sein könnte.

Die Inszenierung konzentriert sich ab hier auf Szenen, in denen die Geschichte ihrer Eltern im Vordergrund steht: die Rückkehr ihres Vaters Agamemnon aus dem Krieg, die Auseinandersetzung mit seiner Frau, sein Bad, seine Tötung durch sie, die sich längst einen anderen Mann in den Haushalt geholt hat. Alessia Rici gelingt es dabei auf formidable Weise, die um ihre eigenen Bedürfnisse drehende Mutter darzustellen, die mit ihrem Noch-Ehemann streitet. Das Trio zwischen ihr, Daniel Moret Chanzà als Agamemnon und Cristian Colatriano als Liebhaber gerät zu einem der Höhepunkte im Stück. 

Man fühlt den Schmerz Elektras

Inszenatorisch liefert Assam mit seiner „Elektra“ ein Gesamtkunstwerk, das man gerne auf noch größerer Bühne sehen würde. Sinnliche Bilder, wie man sie aus einer Opern-Inszenierung dann kennt, wenn es an das heimtückische, theatralisch inszenierte Morden in der Wanne geht, werden verwoben mit Tanztheater, Handlungsballett und der Dynamik des abstrakten zeitgenössischen Tanzes. Man fühlt den Schmerz Elektras, wenn sie zum Schluss allein in der Rotunde, umgeben von Metallstäben, nicht aufhört, ihren Körper zu waschen, während die johlende Gesellschaft sich von ihr distanziert, sie allein lässt und isoliert. Die Täter sind immer die anderen.

 

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