Musik und Tanz im Rendezvous
Stephan Herwigs „Les Préludes“ uraufgeführt im Schwere Reiter
Wenige Menschen waren Mittwochabend ins EinTanzhaus in den Mannheimer Quadraten gekommen, und doch waren alle Plätze auf den mit schwarzem Stoff bezogenen Sitzbänken auf der Bühne belegt. Vor seinem Publikum kniete Stephan Herwig in grüner Trainingshose mit weißen Streifen, man kennt das Kleidungsstück an ihm. Rechts und links neben ihm Gaetano Badalamenti, Bewegungscoach, und Maxwell McCarthy, Dramaturg.
Die Stimmung ist locker, fein, fast festlich, eben so, wie es ist, wenn Menschen in bester Absicht und im Wissen zusammenkommen, mit Freude etwas Schönes und Intimes miteinander zu teilen und sich dafür einander zu öffnen. Im Tanz geht das, und es ist einfach: Die einen bewegen sich, und die anderen schauen still zu. Jeder genießt das, was er erlebt. Geteilte Zeit vergeht, Gemeinschaft entsteht. Im Hintergrund brennt eine Standleuchte, so wie sie über dem Sofa oder dem Schreibtisch hängen würde.
„sehen und gesehen werden“
Herwigs Residenz ist Teil des Programms „sehen und gesehen werden“. Es soll, mal wieder, Künstlerinnen und Künstler im Süden Deutschlands weiter miteinander vernetzen und einen Austausch von Tanzinitiativen aus Bayern und Baden-Württemberg verstetigen.
Die Idee ist alt. Vor mehr als 15 Jahren wurde sie in Bayern, ausgehend von der Regensburger Tanzstelle e.V., gedacht, parallel und noch viel früher in Baden-Württemberg und zeitgleich von Walter Heun. Irgendwie hatten viele, bis zu dem, den Begriff „TanzSüd“ erfindenden Bernhard Fauser vom Unterwegstheater in Heidelberg, an vielen Orten regelmäßig von der Vernetzung der bayerischen und der baden-württembergischen Szenen gesprochen und geträumt. „Aber dann musste erst der Sachse aus Leipzig nach Mannheim ziehen, weil er neuer Kurator von Schwindelfrei geworden ist, und der ganzen Sache einen weiteren Push geben“, erzählt Dirk Förster lachend. Gemeinsam mit der an diesem Abend angereisten Tanzzentrale Nürnberg, der Tanztendenz München und dem EinTanzHaus Mannheim haben Förster und das Mannheimer Schwindelfrei Festival 2023 Residenzen im Bereich Tanz für Choreografinnen, Choreografen und Tanzschaffende aus Mannheim, München und Nürnberg in allen drei Städten angeboten und den Austausch von Tanzinitiativen aus Bayern und Baden-Württemberg so unterstützt. Im September 2023 war bereits die Mannheimer Choreografin und Tänzerin Miriam Markl zu Gast in München. Parallel und unabhängig davon, aber im selben Geiste haben Simone Eliott und Pablo Sansalvador am Ulmer ROXY Theater mit dem ChoreoLab-TanzSüd eine Plattform geschaffen, die ebenfalls Künstlerinnen und Künstler aus Bayern und Baden-Württemberg zusammenbringt.
Utopisches Potenzial wahren Menschseins
Mit seinen Kollegen hat Herwig nun sieben Tage in Mannheim verbracht. Er ist zum ersten Mal hier. Die Stadt kennt den hoch geförderten Tänzer und Choreografen aus der freien Tanzszene München noch nicht. Dass Herwig viele Jahre lang zunächst als Tänzer in Stücken des eine eigene Ästhetik prägenden Micha Purucker zu erleben gewesen ist und danach eigenständig und mit einem völlig anderen thematischen Ansatz als Choreograf einen individuellen und starken Weg entwickelt hat, ist hier noch nicht verbreitet, auch wenn das, was er zu zeigen und zu sagen hat, wichtig ist. Es zeigt das utopische Potenzial wahren Menschseins fern jeder aktuell Menschenbild, Leben und Gesellschaft komplett verändernden Digitalisierung und KI. Herwigs Stil ist, das weiß jeder, der ihn schon mal gesehen hat, immer nach Reduktion strebend. „Ich hoffe so, zu einer umso größeren Vielfalt und Komplexität der Bilder zu kommen“, sagt er. Man sucht diesen Stil noch in Mannheim. Ähnlich und doch völlig anders als Eric Trottier, Mannheims Ausnahme-Choreograf in der freien Tanzszene, bringt Herwig die Stille und die in ihr stattfindenden Sensationen, Eruptionen und Explosionen hervor. Davon erzählen sie an diesem Abend.
Verschiedene Arten des Atmens
Die sieben Mannheimer Tage bildeten den Auftakt ihrer Zusammenarbeit für Herwigs neue Uraufführung, die er 2024 im schwere reiter in München herausbringen wird. Es geht Herwig um das Thema Identität, sagt er. Badalamenti, der sich intensiv mit Atmen beschäftigte, helfe ihm, die Verbindung zwischen verschiedenen Arten zu atmen und damit verbundenen körperlichen Ereignissen aufzuspüren. Einen kleinen Eindruck erhält man, als alle eingeladen werden, nur fünf Minuten gemeinsam zu atmen. Danach wählen Herwig und Badalamenti nebeneinander eine Ausgangsposition und erforschen schweigend, wohin sie der Atem jeweils führt. Das Ergebnis dieser Improvisation ist verblüffend und wunderschön. Da sich beide mit unendlicher Langsamkeit bewegen, fokussiert das Auge rasch Details und entdeckt neue Bilder. Der Arm des einen Körpers scheint dem anderen anzugehören. Der Oberkörper des anderen zu den Beinen und Füßen des einen. Doch nicht Bizzarheit dominiert des Seherlebnis, sondern das ineinander Verschmolzene zweier Menschen, die dennoch in jeder Sekunde jeweils eigenständig bleiben. Darüber hinaus lässt das Spiel der Körper irgendwann über die Grundkomponenten von Skulptur nachdenken. Statt Körper sieht man Masse, Volumen und Form, leeren Raum und Durchgänge. Dann kippt das Sehen wieder, als ob man durch ein Kaleidoskop sieht.
Im intimen Raum der Zweiheit
Man ertappt sich bei der Frage, wie viele Menschen wohl auf der Welt in den unterschiedlichsten Städten und Ländern in ihren Wohnungen im intimen Raum ihrer Zweiheit diese oder jene so eben gesehene Minibewegung, die Gesichter in nächster Nähe zueinander, die Augen geöffnet, vollzogen haben. Die kleine Improvisation in Mannheims Eintanzhaus erhält hier cineastisches Potenzial. Voller Anteilnahme entfaltet sich danach ein Gespräch zwischen Publikum und Künstler. Daria Holme sollte Herwig für 2024 einladen. Herwigs Stil passt zu Mannheim.
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