„Atara“ von Reut Shemesh, Tanz: Ensemble

„Atara“ von Reut Shemesh, Tanz: Ensemble

„research or die“

Das b12 Festival für zeitgenössischen Tanz und Performancekunst in Berlin als Austauschformat und Minifestival

Sommer ist Festivalzeit! Wenn die Theater in der Spielzeitpause sind, füllen Festivalprogramme und Workshops die Sommermonate – und wo, wenn nicht in Berlin diese am besten durchtanzen?

Berlin , 24/07/2024

Im Garten und Innenhof des DOCK 11 wimmelt es nur so vor Tanzbegeisterten. Man trinkt Limo und macht es sich auf der Wiese gemütlich, bevor die Performance beginnt. Am Abend kommen die Festivalteilnehmer*innen und alle, die Lust auf Tanz haben, zusammen, um den Tag ausklingen zu lassen, sich auszutauschen und die Arbeiten ihrer Künstlerkolleg*innen anzuschauen. 

b12 wurde 2016 von den Choreografen Johannes Wieland und Evangelos Poulinas ins Leben gerufen. Unter dem Slogan „research or die“ finden regelmäßig Workshops, Performances und Showings in den Studios und Bühnen des DOCK 11 im Prenzlauer Berg und Pankow statt. Es ist auch für die Künstler*innen eine Möglichkeit, neben den Workshops ihre eigenen Arbeiten zu zeigen. 

Das im Sommer stattfindende Festival b12 richtet sich vor allem an Profis bzw. angehende Tänzer*innen aus aller Welt, die Performances und Workshop-Showings aber für alle Tanzbegeisterten zugänglich. 

Zwischen Klischee und Realität

Fotos von jüdisch-orthodoxen Hochzeiten werden an die Wand projiziert: Frauen, deren Gesichter komplett mit weißem Stoff verdeckt sind. Für die meisten im Publikum vermutlich befremdlich. In „atara“ beschäftigt sich die israelische Choreografin Reut Shemesh mit der Lebensrealität jüdisch-orthodoxer Frauen sowie solchen, die nach einem säkularen Ansatz leben. Die Performance ist eine Collage aus Szenen ihres eigenen Umfelds und spielt mit Klischees und abstrakten Bildern. Die drei Performer*innen tragen schlichte Kostüme mit den stereotypischen Strumpfhosen und Perücken jüdisch-orthodoxer Frauen, mehr braucht es dann nicht an Bühnenbild oder Requisiten, bloß ein weißes Quadrat, das den Bühnenrand markiert, und ein rotes LED-Dreieck, das an der Decke schwebt. Die traditionelle Kleidung steht im starken Kontrast zur elektronischen Musik, die immer wieder genutzt wird, beides fügt sich aber erstaunlich gut zusammen. 

Tänzerisch erinnern die Bewegungen an traditionelle Tänze, manchmal an Flamenco oder griechische Kreistänze, es wird energisch auf den Boden gestampft, in die Hände geklatscht und sichtlich Spaß gehabt. Das bricht sehr schön mit den Klischees über jüdisch-orthodoxe Frauen, die zuvor heruntergerattert werden. Ein regelrechter Ausbruch aus den Traditionen: Stimme bzw. keine Stimme zu haben oder nicht gehört zu werden wird immer wieder aufgegriffen. So tauschen in einer Szene zwei Performer*innen ihre Stimme, in dem der*die Sprechende mit der Hand den Mund verdeckt und die andere Person dafür den Mund passend zu den Worten bewegt. An anderer Stelle ist es komplett still, die Münder aber o-förmig geöffnet, an einen stummen Fisch erinnernd. Es werden Fragen nach Weiblichkeit und Sexualität aufgemacht, eigentlich Tabuthemen im orthodoxen Judentum. Das Gefühl von Gefangensein und damit der Wunsch nach einem Ausbrechen aus den Traditionen zieht sich wie ein roter Faden durch die Performance. In den Momenten des Tanzes gelingt das. Auch wenn einiges unklar bleibt an diesem Abend, schafft es die Performance das Publikum in ihren Bann zu ziehen, vor allem dank der drei tollen Performer*innen. 

Spiegel der Gesellschaft 

Beim spin-Format des Festivals finden die Performances, meist ein Doppelabend, in den EDEN-Studios des DOCK 11 statt und das Publikum wird kreisförmig angeordnet, so dass die Mitte des Raumes bespielt werden kann für zwei Arbeiten von Choreograf*innen, die selber auch bei b12 unterrichten. Der Andrang ist groß, am Ende finden Platz, sitzend oder stehend, die Raumtemperatur steigt schnell auf gefühlte 42 Grad. Eine Choreografie von Victor Rottier eröffnet den Abend. „greywax“ ist eine Gesellschaftskritik, die aktuelle Phänomene wie Oberflächlichkeit, Individualisierung und Massenhysterie aufgreift. Die Arbeit hält unserer neoliberalen Leistungsgesellschaft den Spiegel vor und stellt die Frage: Wie können wir wieder zueinander finden, in einer Welt, die immer anonymer wird? 

Sechs Tänzer*innen versuchen Konflikte und Meinungsverschiedenheiten zu lösen, stoßen dabei jedoch an ihre Grenzen. Die schnellen und energiegeladenen Bewegungen passen zur Wettkampfthematik der Choreografie, die von elektronischer Musik untermalt und zwischendurch von Texteinschüben unterbrochen wird. Synchrone Bewegungsabläufe in der Gruppe zeigen das Wettrennen um Anerkennung, wobei jeder Fehler bestraft wird und Aufgeben keine Option ist. Auch nicht, wenn sich eine*r verletzt – es wird immer weiter gemacht. Alle Tänzer*innen bringen ihren eigenen Stil mit, was sie zu einem tollen Ensemble macht. Die aufgeladene Stimmung im Tanz überträgt sich schnell auf das Publikum, hier funktioniert die intime Raumaufteilung. Immer wieder werden die Zuschauer*innen angesprochen, ja angeschrien, und sind nah dran an der Suche der Tänzer*innen nach Verbindungen zueinander. Das Publikum ist begeistert von dieser intensiven und mitreißenden Performance, wenn auch froh, nach einer Stunde wieder an die frische Luft zu dürfen. 

Das anschließende Solo von Lukas Malkowski beginnt wie eine Mischung aus Konzert und Boxkampf. Der Performer betritt die „Arena“ unter Jubelschreien in einem roten Seidenmantel, die Kapuze ins Gesicht gezogen. Er animiert und dirigiert das Publikum zu Jubeln und Stampfen, gibt ganz den Entertainer. Es wird eine laute Performance werden, das ist schnell klar. Es ist dann alles ein wilder Mix aus greller Musik, selbst mit der Stimme produzierten Geräuschen, die mit einer Loopmachine bearbeitet werden und tänzerischen Bewegungen – ein roter Faden ist aber nicht wirklich erkennbar. Der Titel der Performance ist zwar „microphone controller“, so viel wird dann aber doch nicht mit dem Mikrofon gearbeitet. Zum Abschluss gibt es einen Schattentanz zu Alphavilles „Forever Young“, was am Ende aber etwas willkürlich wirkt, wie einiges andere auch. 

Politische Wut 

Düster und beklemmend ist die Stimmung an diesem Abend im DOCK 11. Schummriges Licht, der gesamte Raum ist mit Plastikfolie abgehängt, und ein Erdhaufen in einer Ecke kreieren das Bild einer Art Zelle, in der sich auch das Publikum befindet. Zwei Tänzer sind isoliert voneinander, jeweils in ihrer eigenen „Zelle“, jeder auf einer Seite des Raumes, markiert durch einen Lichtschacht. Der Raum zwischen ihnen liegt in kompletter Dunkelheit. Sie scheinen gefangen in ihrem kleinen Rechteck. Zunächst wechseln sie sich mit ihren Bewegungen ab, schnell und energetisch, fast schon aggressiv, aber mit der Zeit gleichen sie sich immer mehr an, bis hin zu Synchronität. Dazu lautes Schlagzeug und dunkles Dröhnen. In „hot house“ geht es erst um eine Beziehung zweier Männer, die zwischen Rangelei und Provokation und freundschaftlicher Nähe und Zuneigung schwankt. Mit der Zeit fällt die Sanftheit jedoch völlig weg, und es entwickeln sich von Wut und Aggression aufgeladene Duette, die in regelrechten Kämpfen enden – bis einer Blut spuckt. Ein aufgeladener Tanz folgt dem nächsten, tänzerisch ist das beeindruckend, wenn auch nicht allzu abwechslungsreich. Ab einem gewissen Punkt scheint es ein wenig zu viel mit der Düsternis und Aggressivität. Das Tänzer- und Choreografenduo Baye & Asa will mit seiner aggressiven Bewegungssprache ihre politische Wut auf die Bühne bringen, auch wenn in „hot house“ nicht so recht deutlich wird, gegen wen oder was diese Wut gerichtet ist. Themen wie Gefangenschaft und Isolation (die Performance ist auch in Bezug auf die Corona-Pandemie entstanden) sind durchaus erkennbar, es werden eindrückliche Bilder kreiert, und dass hierauf mit Wut reagiert und beim Publikum Unwohlsein ausgelöst wird, ist durchaus nachvollziehbar, aber warum die Beziehung zwischen den Tänzern, die zu Beginn noch freundschaftlich zu sein scheint, so dermaßen kippt, wirft Fragen auf. Am Ende ist es einfach zu viel von allem: zu viel Schlagzeug und Punk, zu viel Aggression, zu viel Nebel, zu viel gespucktes Blut und Brutalität. Es lässt sich andererseits viel über diese Performance nachdenken und sprechen. 

Das Festival dauert fast vier Wochen an und umfasst an die 20 diverse und politische Performances und Workshops. Hinzu kommen Workshop-Showings, Improsessions, Filmabende und Diskussionen. Theoretisch ist jeden Tag etwas los. b12 kommt ganz ohne große Kompanien aus, was dem Tanzpublikum in Berlin die Möglichkeit gibt, mal unbekanntere Choreograf*innen kennenzulernen. Und dass das funktioniert, zeigt sich durch die wachsende – auch internationale – Beliebtheit. In diesem Sommer viel Zeit mit Tanz im DOCK 11 zu verbringen, lohnt sich. 

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