„Motel 5“ von Alexander Hille, Tanz: Jana Baldovino, Yunju Lee, Gjergji Meshaj, Matthew Jared Perko, Ethan Ribeiro

„Motel 5“ von Alexander Hille, Tanz: Jana Baldovino, Yunju Lee, Gjergji Meshaj, Matthew Jared Perko, Ethan Ribeiro

Sprühende Funken

Das Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz verabschiedet sich mit „Sparks“ in die Spielzeitpause

„Pay What You Can“ lautete am 17. Juli das Motto des Tanzabends, der in dieser Form nur ein einziges Mal zu sehen war. Ein echtes Unikat, choreografisch wie tänzerisch, das in seiner Vielseitigkeit begeisterte und erstaunte.

München, 18/07/2024

Mit „Sparks“, der neue Name des Jungen Choreograf*innen-Abend des Balletts des Staatstheaters am Gärtnerplatz, verabschiedete sich das Ensemble nach nur einer einmaligen Vorstellung in die wohlverdiente Spielzeitpause. Es ist eine sympathische Gruppe talentierter Menschen, die – wie es gerade für diese Kompanie so charakteristisch ist – stets einen unbedingten kollegialen Zusammenhalt präsentieren und sich selbst als eine eingefleischte Gemeinde kreativer Tanzschaffender, die ihre Arbeit lieben und ihr Haus. 

Pay what you can 

Dass das Gärtnerplatz Theater jederzeit bereit ist, diese Gemeinde im Sinne der Inklusivität zu vergrößern und zu öffnen, hierfür stand allein schon das Konzept des Abends: „Pay What You Can“. Nonchalant erklärte Ballettchef Karl Alfred Schreiner am Ende der Vorstellung, dass jeder selbst entscheiden dürfe, was einem das soeben Gesehene wert sei, und auch, ob er den freiwilligen Eintritt fürs einmalige Theatererlebnis vielleicht jemandem spendieren wolle, der oder die sich das sonst nicht leisten könne. Chapeau – diese Idee der Teilhabe soll bitte unbedingt Schule machen und sich in der Theaterlandschaft verankern. 

Fraglos, vielen bedeutete dieser Tanzabend eine ganze Menge, wie der begeisterte Schlussapplaus deutlich machte, bei dem sich Tänzer*innen und Choreograf*innen glücklich ihrem Publikum präsentierten – eine Trennung fand hier von vornherein nicht statt. Ganz selbstverständlich tanzten die jeweiligen Tanzschöpfer des Abends auch in den anderen insgesamt sieben Stücken ihrer Kolleginnen und Kollegen mit und gaben hier wie dort ihr Bestes. Dieses Beste zeugte in vielen Fällen von einer erstaunlich hohen Qualität, nicht nur tänzerisch – was sich bei der superben Kompanie von selbst versteht –, sondern auch choreografisch.

Multimediales trifft Psychedelisches 

Eines der spannendsten Konzepte des Abends stammte von Alexander Quetell, bei dem „Chor de Ballett“ wörtlich zu nehmen ist, denn hier stand nicht nur das Ballett-Corps auf der Bühne, sondern auch der ein Dutzend starke Opernchor mit Sänger*innen des Gärtnerplatz (Leitung: Pietro Numico), zu dessen sakralem Gesang sich fünf Tänzer*innen mit ausladenden Armen und gedrehten Attituden simultan und wie in Trance bewegten – scheinbar ziellos und in stetig wechselnder Formation. Dieser Auftakt des Abends gestaltet sich ungewöhnlich „crazy“ und mit echtem Aha-Effekt, indem die Tänzer*innen zunächst in wackelndem Close-Up auf den geschlossenen Bühnenvorhang solistisch projiziert wurden – in pseudobarocker Kostümierung, Fatsuit oder als sexy Vamp – und später eine Entkleidungs-Metamorphose durchlebten. Erst mit Öffnen des Vorhangs wurde offensichtlich, dass die Aufnahmen simultan und in Echtzeit von der Handkamera festgehalten wurden – kluge Idee. 

Furioser Höhepunkt von „Sparks“ war die dramaturgisch und im Gesamtkonzept wohl schlüssigste choreografische Arbeit von Alexander Hille „Motel 5“, dessen Bühnenbild mit rotscheinendem Laternenständer und grauem Retro-Telefon auf Bistro-Tischchen vom ersten Moment an fesselte. Der erste Eindruck hielt, alsbald eröffnete sich ein psychedelisches Manifest für die Augen, das stark an Tim Burtons alptraumhafte Film-Version von „Alice im Wunderland“ erinnerte und choreografisch die größte Spannbreite an Bewegungssprache bereithielt – Charleston, verbunden mit virtuosem zeitgenössischem Tanz und Kontaktimprovisation. Einsame Individuen gab es hier zu sehen, die gleichermaßen gefangen und verloren wirkten in ihren (Selbst-)Bildern der Vergangenheit. Es entspannte sich in diesem herrlichen Tanzthriller eine geradezu knisternde cineastische Atmosphäre, mit der man sich irgendwo wiederfand zwischen „Babylon-Berlin“ und Hitchcocks „Die Vögel“. 

Tanz handelt von Tanz?

Auch andere schöne Ideen überzeugten bei „Sparks“, wenngleich der zweite Teil des Abends dramaturgisch nicht ganz mit dem Wow-Auftakt der beiden Vorgängerstücke mithalten konnte: 

„Summer Madness“ von Willer Gonçalves Rocha gestaltete sich als sinnliches (Wasser-)Vergnügen, geografisch verankert im tiefen Amazonas-Gebiet, das vor allem mit stark exaltierten und lustvollen Frauen-Soli mit fliegenden Haaren und Kleidern in Pina-Manier punktete. „Unfaced“ von Montana Dalton – eine der nur zwei weiblichen Beiträge des Abends – gestaltete sich als Butoh-Körper- und Maskentheater rund um das weite Feld der Identitätslosigkeit. Zwar legte es insgesamt etwas zu viel Pathos an den Tag, überzeugte aber tänzerisch in jedem Moment. Der sich anschließende „Schrei“ von Douglas Evangelista wirkte in seiner wirklichen Fokussierung auf Tanz und Bewegung geradewegs befreiend, nach einer Reihe nicht immer in gleicher Weise stringent erzählender Stücke. Ähnlich verhielt es sich mit David Valencias Trio „The Score“, in dem die Tänzerinnen anhand ihrer gegenseitigen Verbindung mit Bändern komplexe, sich stetig verändernde Bewegungsskulpturen und geometrische Formationen entstehen ließen und an eine in der Partitur fixierte musikalische Komposition erinnerten. 

Der Lacher des Programms war zweifellos Emily Yetta Wohls „Sheep“, in dem sich die Choreografin von Sally Coulthards Roman „A Short History of the World According to Sheep“ inspirieren ließ und eine persönliche, höchst humoristische Hommage an diese liebenswerten Lebewesen gestaltete – dabei steckte sie ihre Tänzer*innen in selbstgehäkelte und genähte Kostüme. 

Gerade einmal 20 Stunden waren den Choreograf*innen für die Erarbeitung ihrer Stücke zugestanden – eine echte Leistung, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Ensemblemitglieder erst kürzlich eine große und äußerst probenaufwendige Produktion mit Andonis Foniadakis „Troja“ hinter sich gebracht hatten. Sieben Stücke, was in diesem Fall nicht weniger als „sieben Uraufführungen“ bedeutete, wie Karl Alfred Schreiner mit Recht stolz vermerkte. Es bleibt nur zu hoffen, dass dieses überzeugende Konzept des Tanzabends unbedingt beibehalten wird – gerne auch mit einer angehängten zweiten Vorstellung oder einer dritten… 

Mit einem bunten Bild samt vom Chef höchstpersönlich überreichten Sonnenblumen endete dieser genüssliche wie auch kurzweilige Abend und die Vorfreude auf die nächste Spielzeit beginnt. 

 

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