Stühlerücken auf dem Tanzboden
Das Hessische Staatsballett kommt – die Ballettchefs der Staatstheater im Südwesten wechseln
Die vier tanzenden Geschwister der niederländischen Familie van Opstal waren so etwas wie ein Markenzeichen von Nederlands Dans Theater. Inzwischen haben zwei von ihnen, Imre und Marne, die aktive Tänzerlaufbahn gegen eine noch steilere Karriere als Choreografen-Duo eingetauscht. Dem Hessischen Staatsballett haben ihre Arbeiten bereits zwei Faustpreis-Nominierungen eingebracht. Für das Eingangsstück des aktuellen Tanzabends „I am Bob“ arbeiten sie zum ersten Mal dort mit großer Besetzung.
Die sechzehn Tänzer*innen stecken in Unisex-Camouflage-Kostümen, die sie als ferngesteuerte Marionetten im urbanen Dschungel kennzeichnen. In Reih und Glied marschieren sie, mit steifen Armbewegungen, wie an unsichtbaren Schnüren gezogen. Im Hintergrund sorgt ein Treppeneck mit übergroßen Stufen (Bühne und Licht: Tom Visser) für Balance-Herausforderungen, ein raffiniert gemischter Soundtrack (Amos Ben-Tal) gibt Takt, Tempo und Stimmung vor. Der schier endlose Reigen, in den die Opstals einen absurden kleinen Knicks eingebaut haben, findet ein jähes Ende, als die Tür im Bühnenhintergrund zuschlägt. Die Prozession muss sich neu formieren.
Anpassen, ausbrechen, anstiften
Mit großer Raffinesse entwickeln die Geschwister choreografische Bilder über den Versuch, sich neuen Gegebenheiten anzupassen, auszubrechen, andere mit anzustiften, dazuzugehören und doch Individualität einzubringen. Aus Fehlern und scheinbarem Scheitern werden dabei kreative kleine Fluchten: Urplötzlich stolpert ein Tanzpaar unvermittelt in einen ansteckenden Rock ’n‘ Roll, einer der Gestürzten bleibt für einen schönen Moment in lässiger Pose mit baumelnden Beinen liegen. „I am Bob“ heißt der Stücktitel, und er betont die sympathische Haltung des Choreografen-Duos zu Mister und Miss Jedermann, die sich (zu) vielen Konventionen beugen und dennoch ihre Würde zu wahren wissen.
Große Tänzer sind begehrt in zeitgenössischen Kompanien – mir ihrer athletischen Präsenz verleihen sie jeder Bewegungssprache besondere Intensität. Das Hessische Staatsballett verfügt gleich über mehrere Tänzer mit besonderem Gardemaß, aber der Mann unter ihnen mit den wohl längsten Armen ist Ramon John. Ihm hat Xie Xin, die schon mehrfach mit dem Hessischen Staatsballett gearbeitet hat, in ihrem neuen Stück die Rolle eines Phönix aus der Asche zugedacht. Zum bewegenden Abschlussbild von „Broken Sense of Beauty“ hebt er die Arme wie fiktive Schwingen, und man würde ihn gerne auffliegen sehen.
Verarbeitung traumatischer Erfahrung
Die chinesische Choreografin verarbeitet in diesem Stück eine traumatische Erfahrung: den Brand, dem ihr Studio in Shanghai zum Opfer gefallen ist. Auch wenn kein Mensch dabei zu Schaden kam, hat dieser Brand nicht nur ein Gefühl von immensem Verlust ausgelöst, sondern auch von allgegenwärtiger, unterschwelliger Bedrohung. Wege aus dieser lähmenden Situation zeigt Xie Xin mit der ihr eigenen Gründlichkeit im eindrucksvollen Mix theatralischer Effekte, für das sie ihr eigenes, bewährtes Team mitgebracht hat. Ein technisch anspruchsvolles Bühnenbild mit unterschiedlichen Vorhängen lässt an Stadien der Verbrennung und Zerstörung denken, aber auch an Hautschichten. Die Kostüme, anfänglich bestehend aus hellen, fließenden Oberteilen mit weiten Hosen in einem Farbverlauf von Hell nach Dunkel, werden später gegen hautfarbene, geraffte Dessous eingetauscht. Hausmusikerin Sylvian Wang steuert einen gefühlvollen analog-elektronischen Soundtrack bei.
Schon im Anfangsbild klammern sich die sechs Tänzer*innen in einem Körperknäuel aneinander, aus dem Ramon John wie ein Fels in der bedrohlichen Brandung herausragt. Immer wieder wird ihm die Rolle zuteil, den übrigen Akteuren in ihren sichtbaren Stadien von Angst, Trauer und Verzweiflung Halt zu bieten. Asche ist das beherrschende Thema des Stücks – Asche, die sich auf den Vorhängen abzeichnet, den Farbverlauf auf den Hosen prägt, später Flecken auf den hautfarbenen Dessous hinterlässt, und die schließlich in Riesenflocken unaufhaltsam vom Bühnenhimmel rieselt in diese dunkle Schicht, die den Tanzteppich mehr und mehr bedeckt, schreiben die Tänzer*innen ihre neuen, unverwechselbaren Schritte und Spuren ein – und plötzlich kann man dem rieselnden Grau einen zarten Glanz abgewinnen.
Ballettdirektor Bruno Heynderickx geht neuerdings mit dem Hessischen Staatsballett einen ähnlichen künstlerischen Weg wie die benachbarte Truppe tanzmainz unter der Leitung von Honne Dohrmann: weg von hauseigenen Choreograf*innen, hin zur Zusammenarbeit mit unterschiedlichen, internationalen Tanzschöpfer*innen. In Mainz geht dieses neuartige Konzept seit zehn Jahren erfolgreich auf – in Darmstadt und Wiesbaden, den beiden Aufführungsorten des Hessischen Staatsballetts, stehen zumindest die Anfangszeichen ebenfalls auf Erfolg.
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