Stühlerücken auf dem Tanzboden
Das Hessische Staatsballett kommt – die Ballettchefs der Staatstheater im Südwesten wechseln
„Mont Ventoux“ des Kollektivs Kor’sia beim Tanzfestival Rhein-Main in Wiesbaden
Es muss sich etwas ändern. Das wurde den Besucher*innen des Wiesbadener Staatstheaters geradezu schmerzhaft vor Augen geführt, als die neun Tänzer*innen des spanischen Künstlerkollektivs Kor’sia am Ende des Stücks „Mont Ventoux“ gefühlt unerträglich lange mit weit ausgebreiteten Armen verharrten. Einer fängt als erster zu wackeln an ... dann fällt der Vorhang. Es ist kein Vorhang im eigentlichen Sinn, denn Kor’sia (angeführt vom Choreografen-Duo Mattia Russo und Antonia de Rosa) haben die Bühne mit Hilfe geballter theatralischer Mittel komplett vereinnahmt. Die Beiden greifen dabei nicht nur beherzt, sondern auch sehr raffiniert ins Volle. In Wiesbaden kennt man sie schon von einer erfolgreichen „Kafka“-Produktion beim Hessischen Staatsballett – das Haus beim Gastspiel im Rahmen des Rhein-Main-Tanzfestivals war voll und der Beifall am Ende herzlich.
Zuvor musste man erst einmal herausfinden, ob man sich als Zuschauer drinnen oder draußen fühlen sollte – die Bühne wurde vereinnahmt von einer ziemlich scheußlichen (verschiebbaren) Sechziger-Jahre-Fassade: In der Mitte drei identische bodentiefe große Fenster, eingerahmt von einheitsgrauen Blöcken. Durch die Fenster war ein halbrunder aufgehängter Vorhang zu sehen – den plötzlich ein Sturm wegpustete. Die Windmaschine bekam musikalische Schützenhilfe – Alejandro Da Rocha lieferte passend zur Stimmungslage mal mehr Geräusch, mal mehr Originalmusik.
Metapher für eine Reise der Menschheit
Es ist typisch für die Arbeitsweise dieses hoch erfolgreichen Kollektivs, dass der Besetzungszettel nicht nur Dramaturgie, sondern auch Szenografie ausweist, nicht nur Kostümdesign, sondern auch kreative Leitung, nicht nur Choreografie, sondern auch Idee und Regie. „Mont Ventoux“ ist tatsächlich großes Tanzkino – man tut freilich gut daran, dem Programmheft zuvor ein paar wesentliche Informationen zu entnehmen. Sonst bliebe offen, was es mit dem schneebedeckten Gipfel auf sich hat, der ab und zu im Hintergrund aufblitzt. Es ist der titelgerbende Berg, von dessen Besteigung der italienische Dichter Francesco Petrarca 1336 in einem literarischen Brief berichtete. Die Bergbesteigung wurde für ihn zur Metapher für eine Reise der Menschheit, die sich so aus den Tiefen des Mittelalters befreien könnte und hinauf in die Höhe eines neuen Humanismus finden.
Getreu der kollektiven Arbeitsweise firmieren die Tänzer*innen bei Kor‘sia als Co-Choreograf*innen und gehen in ihrem individuellen Bewegungsvokabular konsequent bis an die persönlichen Grenzen. So entsteht eine unaufdringliche Authentizität auch bei extremen Bewegungs-Herausforderungen.
Hochkultiviertes Miteinander
Für das Thema ihres Tanzstücks, den nötigen Paradigmenwechsel in der Gesellschaft, haben die Macher mit großer Selbstverständlichkeit den Tanz selbst instrumentalisiert; sie demonstrieren die allmähliche Verfertigung neuer Menschheits-Gedanken durch tänzerische Bewegung. Mit einem unschuldigen Ringelreihen am Boden geht es los, harmlos, spielerisch, wenig zielgerichtet. Außer wenn Sex ins Spiel kommt, oder Aggression jeder Art ... Immer wieder gelingt es den Machern dieses Stücks, durch ein ausgeklügeltes Zusammenspiel aller Theatermittel plötzliche, unerwartete und verblüffende Assoziationen hervorzurufen.
Die Entwicklung der Menschheit nimmt ihren Lauf: immer aufrechter, schneller, getriebener, kämpferischer – bis am Ende ein hochkultiviertes Miteinander die schöne Lösung aus der gesellschaftlichen Misere aufzeigt. Hier blitzt sogar immer wieder klassisches Ballett auf, in einer modernen, wenig formstrengen Variante. Es ist eine sympathische Rettung, die Kor’sia hier weniger suggerieren als bühnenstark einfordern – manchmal überlaut im übertragenen Sinn, aber durchaus wirkungsvoll.
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