Crankos Erbe
Das Stuttgarter Ballett trauert um Dieter Graefe
Ein Gastspiel der Extraklasse: Das NTM Tanzensemble tanzt „Kosmos - Schwerelos“ in Stuttgart
Was zunächst wie Nachbarschaftshilfe aussah, entpuppte sich als Sternstunde des Balletts in Baden-Württemberg. Mit der Einladung an Stephan Thoss und dessen Tanzensemble am Nationaltheater Mannheim, mit deren Ballettabend „Kosmos – Schwerelos“ bis 12. Juli 2024 ingesamt vier Mal im Schauspielhaus Stuttgart, eines von zwei Stammhäusern des Stuttgarter Balletts, aufzutreten, ehrte Tamas Detrich, Intendant des Stuttgarter Weltklasse-Ensembles, nicht nur einen Künstler und Kollegen, dessen choreografische Wurzeln bis nach Stuttgart reichen. Vielmehr ließ Detrich durch die Gastspiel-Einladung an den Weggefährten und dessen Company bei sich zuhause in der Landeshauptstadt ein Repertoire und einen Stil aufblitzen, die wie lange vermisste Puzzleteile im Stuttgarter Ballett-Universum wirkten. Thoss’ Neukreation für „seine“ Kompagnie „in Stuttgart“ – „Schwerelos“ machte angesichts der dargebotenen choreografischen und tänzerischen Qualität, des Tänzelns zwischen Konkretion und faszinierender, sich jeder Deutung entziehenden Abstraktion und zeitgemäßer Aktualität atemlos.
Thoss passt zu Stuttgart
Thoss passt zum Stuttgarter Ballett, lapidar gesagt, wie Topf und Deckel. Der gebürtige Leipziger zählt heute zu den choreografisch qualitativ besten Tanzerzählern in Deutschland, bei einem gleichzeitig ungeheuren Spektrum an Stücken, geboren aus Fantasie, Leidenschaft und Können. Marcia Haydée hat ihn nach der Wende 1990 in Dresden entdeckt, wo er an der Staatsoper als Solotänzer und junger Choreograf hervorgestochen war. Ausgebildet 1983 an der Palucca Schule Dresden sowie anschließend in der ausgefeilten Joos-Leder-Technik durch Patricio Bunster, hat Thoss in den vergangenen Jahrzehnten als Direktor und Chefchoreograf in Kiel, Hannover, Wiesbaden und seit 2016 als Intendant Tanz in Mannheim mit unzähligen Neukreationen den bewegungsintensiven, tatsächlich mit dem Körper erzählenden Tanz überzeugend in die Gegenwart geführt. Auch entrückende, episodische oder scheinbar abstrakte Arbeiten wie nun das in Stuttgart vorgestellte „Schwerelos“ wirken bei Thoss immer als weit ausgreifende und detailliert ausgearbeitete Kreationen, die zupackend, vielsagend und klar etwas von der menschlichen Existenz auf Erden auf oft betörende und schlicht umwerfende Weise greifbar machen. Stücke für das Stuttgarter Ballett wie beispielsweise „Lindos“ oder andere, geschaffen für Detrich selbst, aber auch für ehemalige erste Solistinnen und Solisten wie etwa Ivan Cavallari, Sonia Santiago, Rolando D ́Alesio oder Julia Krämer gehören dabei zu seinen Karriere entscheidenden Anfangsjahren ab den 1990er Jahren.
Umbau in Mannheim lässt Company ohne große Bühne
Die aktuelle Einladung von Tamas Detrich, mit seinem ganzen Ensemble nach Stuttgart reisen zu dürfen, habe die Tänzerinnen, Tänzer und das gesamte Team elektrisiert, erzählt Thoss gegenüber Tanznetz, zumal es in der Geschichte des Stuttgarter Balletts außerhalb von Tanzgalas sehr selten zu Einladungen gegenüber ganzen Ensembles kommt. Erinnert wird das Ballett Staatstheater Nürnberg unter der damaligen Leitung von Daniela Kurz während eines Japan-Gastspiels des Stuttgarter Ensembles Anfang der 2000er Jahre. „Stuttgart ist eine Hochburg des Tanzes und wir reisen mit Freude und mit Ehrfurcht an, und werden mit der vollsten Aufmerksamkeit präsent sein,“ fasst Thoss gegenüber Tanznetz wenige Stunden vor der Aufführung zusammen.
Zustande gekommen war das Gastspiel vor dem Hintergrund der im August 2022 begonnenen und sich bis 2028 hinziehenden Generalsanierung des Mannheimer Spielhauses am Goetheplatz. Seitdem weichen alle Sparten des Nationaltheaters auf oft kleinere Ersatzspielstätten in Mannheim, Ludwigshafen und Schwetzingen aus. Thoss´ Truppe hat sich mit dem eigenen Spielplan hierbei vor allem im Alten Kino Franklin und im hauseigenen Tanzhaus in Käfertal eingerichtet. Dennoch blieb und bleibt die Sehnsucht, mal wieder auf großer Bühne vor großem Publikum zu tanzen, wie Thoss gegenüber Tanznetz erzählt: „Um eine Company auf hohem Niveau zu halten, braucht man die große Bühne und Spieltermine, auf die man hinarbeiten kann“, so der Mannheimer Tanzchef, der zudem um die Expertise und die Begeisterungsfähigkeit des Stuttgarter Publikums weiß. Detrich leistete in diesem Moment die passende Schützenhilfe, was Thoss als „solidarischen Akt des Tanzes“ empfindet. „Als mich der Hilferuf von Stephan Thoss erreichte, war mir sofort klar, dass ich unterstützen muss“, so Detrich. „Tänzerinnen und Tänzer müssen tanzen und brauchen ein Publikum, auch wenn eine Sanierung der Spielstätte nötig ist. Stephan Thoss hat früher schon Werke für das Stuttgarter Ballett geschaffen, deshalb freut es mich umso mehr, dass das Stuttgarter Publikum im Rahmen dieses Ballettabends wieder eine Choreografie von ihm sehen kann.“
Neufassung von „Kosmos“ und „Schwerelos“
Dass ihn die Einladung auch als Künstler beflügelt habe, gibt Thoss unumwunden zu. Ausgehend von seinem am 4. Februar 2023 uraufgeführten Stück „Schwerelos“ hatte er sich von daher mit seinen Tänzerinnen und Tänzern in den vergangenen Wochen an eine fast komplette Neufassung des Stückes gewagt, die noch besser mit dem seinerzeit eingekauften und einstudierten, rasanten Stück „Kosmos“ von Adonis Foniadakis kongruent gehen sollte. Das ist ihm gelungen: Sein „Schwerelos“ ist in der Tat näher an „Kosmos“ herangerückt, wirkt jedoch noch ätherischer, entrückter und geheimnisvoller.
In „Kosmos“ lässt Foniadakis die Tänzerinnen und Tänzer die Themen Beschleunigung, Ekstase, Transzendenz und kosmische Vereinigung wie urbane Derwische sich frenetisch steigernd auf der Bühne zelebrieren lässt, bis das atemlos machende Geschehen in einem seelenvollen Bild zweier nackter Körper in hellem und gepixeltem Licht explodiert. Dagegen wirkt „Schwerelos“ voller Fremdheit, Geheimnis und Aura. Es ist, als ob einen das Stück von Anfang an in eine Zwischenwelt jenseits des Lebens auf der Erde katapultiert, wo sich zwei noch als menschliche Wesen abmühende Gestalten, getanzt von Joris Bergmans und Alexandra Chloe Samion, aufhalten, bevor sie in die Welt danach eintreten.
Von Qualitäten dort – oder doch hier ? – mentaler, stofflicher oder materieller Art zeugen mehrere Soli und Duette. Sie werden derart bizarr, verbunden und flüssig wie Quecksilber getanzt, etwa von Albert Galindo und Arianna Di Francesco, von Lorenzo Angelini oder von Emma Kate Tilson, Pascal Michael Schut und Reiko Tan. Man begreift schnell: Das neue „Schwerelos“ von Thoss schafft viele Polaritäten von Leben – männlich oder weiblich, Silber oder Gold, Erde und Himmel, Verbundenheit und Eigenständigkeit, Diesseitigkeit und Transzendenz, Leben und Übertreten – gleichzeitig aufscheinen zu lassen und so zu einer kanonwürdigen Chiffre des Tanzes über den Kosmos zu werden. Schnell landet man beim Gedanken, ob diese Einladung von Ensemble an Ensemble nicht ein tragfähiges Zukunftsmodell sein könnte?
Noch keine Beiträge
basierend auf den Schlüsselwörtern
Please login to post comments