„In C“ von Sasha Waltz mit Studierenden der Folkwang-Universität
Ein Fotoblog von Ursula Kaufmann
Von Gabriele Klein
Nicht selten beginnen Kritiken über Tanz- und Theateraufführungen im Ruhrgebiet mit dem Malocher-Klischee. Der Pott, wie ihn auch seine Einwohner*innen liebevoll nennen, wird nach wie vor gern als eine Region in der Tradition von Kohle, Stahl und Eisen beschrieben, die mit Kultur und Kunst fremdelt. So falsch kann man liegen. Denn die Vielfalt, Reichhaltigkeit und künstlerische Qualität ist enorm – und das haben die Ruhrfestspiele Recklinghausen bei ihrer Eröffnung mal wieder eindrücklich unter Beweis gestellt.
Die Ruhrfestspiele Recklinghausen entstanden selbst aus einem Zusammenspiel von Kohle und Kunst: Im kalten Winter 1946/47 luden Bergleute in Recklinghausen ohne Wissen der Besatzungsmächte LKWs voller Kohle, damit die bereits wieder eröffneten Hamburger Theater beheizt werden konnten. Die Hamburger Bühnen bedankten sich mit Kunst und spielten Tschechow, Tolstoi und Mozart in Recklinghausen. 1948 wurden dann die Ruhrfestspiele im Verbund von DGB und Stadt gegründet.
Genuin politisches Festival
Damals wie heute ist es nicht die Hauptaufgabe des DGB, Kunstfestivals zu fördern, das wird auch bei den diesjährigen Eröffnungsreden nochmals betont. Es ist etwas Besonderes und nur folgerichtig, dass sich die Ruhrfestspiele Recklinghausen seit ihren Anfängen als ein genuin politisches Festival verstehen. Darauf verweist Olaf Kröck, Intendant der Festspiele, angesichts aktueller Debatten um cancel culture in den Künsten betont er aber auch die Differenz zwischen Kunst und Politik: „Von Beginn an haben wir die Ruhrfestspiele als ein politisch denkendes Kunstfestival verstanden. Aber Kunst und Politik sind nicht dasselbe. Politik zwingt zu eindeutiger Positionierung. Kunst sucht das Ungenaue, das Unausgesprochene, das Gefühl, die Schönheit, den Schmerz. Kunst, die sich politisch versteht, will Inhalte stark machen ohne in ein ‚Dafür oder Dagegen’ zu verfallen. Sie kann und muss sich frei machen von Verachtung und Hass.“
„Vergnügen und Verlust“ ist folgerichtig das Motto, unter dem sich ein hochinteressantes Programm aus Tanz, Theater, Neuer Zirkus, Literatur und Kunst versammelt. Die in jeder Hinsicht gelungene Eröffnung stellte unter Beweis, dass diese Kunstformen nicht nur nebeneinanderstehen, sondern miteinander verbunden sein sollen: Esther Kinsky, die jüngst mit dem Kleist-Preis ausgezeichnete Schriftstellerin und Übersetzerin, hielt die literarische Eröffnungsrede. Nach den vergnüglichen Eingangsstatements sprach sie über den Verlust. Verhalten und mit sanfter Stimme erzählte sie von einer Zirkustruppe, die sie auf ihren Zugreisen in Ungarn beobachtet hatte. Es war eine Metapher über Ortlosigkeit, Nicht-Sesshaftigkeit, Migrieren, Ausgegrenzt-Sein, über die Bildhaftigkeit des Fremden und die Unsicherheiten und Ängste der Annäherung. Ihr Beitrag war eine Aufforderung gegen die Gleichgültigkeit, das Achselzucken, das Wegsehen.
Ästhetisches Gesamtkonzept
Während Kinsky den Verlust – von Gemein-Sinn, von Gemeinschaft, von dem Willen zur Annäherung zugunsten des Privaten, Individuellen thematisierte, wurde es bei dem Eröffnungsstück rasant, vergnüglich und gemeinschaftlich. Die australische Kompanie Gravity & Other Myths, bestehend aus 24 Akrobat*innen und unter Leitung von Darcy Grant, zeigte in ihrer, im Livestream auf Arte TV übertragenen Deutschlandpremiere der Show „The Pulse“, was das Genre Neuer Zirkus vermag. Choreografische und theatrale Formen, ein dramaturgisches und ästhetisches Gesamtkonzept, kombiniert mit spektakulären Zirkustechniken und zeitgenössischen Tanztechniken, ein hervorragendes Lichtdesign und Bühnensetting, machen die Show zu einem einzigartigen Erlebnis. Dazu trägt auch der Frauenkonzertchor der Chorakademie Dortmund wesentlich bei. Die Gruppe der gut 25 Sänger*innen beeindrucken nicht nur durch ihren Gesang. Auch das choreografische Konzept, das einen Dialog zwischen Musik und Tanz/Artistik, zwischen Lokalem und internationalen Künstler*innen vorsieht, überzeugt und macht „The Pulse“ zu einem außergewöhnlichen und nachhaltigen Kunstereignis.
Die Ruhrfestspiele Recklinghausen haben sich über mehr als 75 Jahre behauptet und die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen begleitet. Auch als das Land NRW 2002 beschloss, die deutlich stärker finanzierte Ruhrtriennale zu gründen, konnten sie sich mit einem frischen, jungen Programm stark positionieren. Im April dieses Jahres wurden die Ruhrfestspiele Recklinghausen zum immateriellen Kulturerbe des Landes Nordrhein-Westfalen ernannt. Herzlichen Glückwunsch!
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