„Tanz der Menschlichkeit“
Nestroy Spezialpreis für Doris Uhlich und Michael Turinsky mit „Ravemachine“
Doris Uhlichs „In Ordnung“ als Uraufführung in den Münchener Kammerspielen
Am Ende der Performance muss alles wackeln – sowohl das stufige Podest unter der 16-köpfigen Truppe als auch jeder der herrlich unterschiedlichen Körper für sich. Gemeinsam ist man – endlich – angekommen am ekstatischen Gipfelpunkt einer Entfesselung, die alle Bühnenenergie kollektiv bündelt. Hinter dieser ultimativen Ziellinie: befreiende Atemlosigkeit des tänzerisch auf ungewöhnliche Weise herausgeforderten, inklusiven Ensembles der Münchner Kammerspiele. Dem Premierenpublikum war eine solche, sich weniger inhaltlich steigernde denn ästhetisch verdichtende Darbietung einen prompten wie heftigen Applaus wert – zuletzt stark angeheizt durch die einzige Szene mit klar verständlichem Text und im Zusammenhang so unglaublich berührenden Worten.
Wie das? An der Spitze eines Menschenturms vibriert Samuel Kochs seit einem spektakulären Unfall 2010 querschnittsgelähmter Körper komplett mit. Jetzt rollstuhlfrei darf er sich in den sicheren Halt seiner sonst ganz in Bewegung losgelösten Kolleginnen und Kollegen eingebettet fühlen. Mit vom Schwanken seines Brustkorbs bebender Stimme bringt er Sinn und (Selbst-)Zweck von Doris Uhlichs Neukreation „In Ordnung“ auf den Punkt: „Ich tanze; tanze ordentlich; ich tanze die Verschiebung; tanze den Zufall; ich tanze den Schmetterling …“ Zudem sind hier Anspielungen rund um Kategorien von und die Bedeutungsvielfalt des Begriffs „Ordnung“ enthalten wie den sogenannten „Schmetterlingseffekt“ in der Chaostheorie. Verbal ins Stück geschafft haben es schließlich bloß noch Relikte in Form lauter Seufzer oder das im Elektrosound des Medienkünstlers und DJs Boris Kopeinig untergehende Brüllen in ein Mikro.
Kleine Veränderungen bis zur Extase
Der Weg, den die heterogene, enorm individuell erscheinende Gruppe beschreitet, füllt wahrlich wundersame 70 Minuten. Während manche Zuschauer*innen durch kleine Veränderungen der wie Orgelpfeifen im Raum sortierten Interpret*innen, des Bühnensettings oder durch im teils bespielbaren Parkett zur Schau getragene Kostümüberraschungen (vom Legomännchen über den Dino bis zum Totenskelett) immer wieder zum Lachen gebracht werden, scheinen exakt diese Momente von Situationskomik andere eher in den Zustand verblüffter Reserviertheit zu versetzen. Besonders spürbar wird das, wenn die Darsteller*innen, die zu Beginn noch ordentlich in Reih und Glied an der Rampe über Augenkontakt das Gegenüber der Zuschauenden fixieren, irgendwann offenbar alles und jeden um sich herum vergessen. Auf das Publikum mag was wirken wie ein Disko- oder Clubbesuch, bei dem man zwar absolut frei assoziieren, aber nicht mittanzen darf.
Nach und nach wird in puncto Bekleidung bzw. Haltung – schier eruptiv in körperlichen Entladungen jedes Einzelnen – alles über Bord geworfen, was einem emotional oder im wohlgeordneten Alltag Ballast sein könnte. Vor allem das impulsiv Ungebändigte dieser jüngsten Kammerspiel-Uraufführung, die eine performative Suche nach Chaos und daraus frei neu zu (er)findenden Ordnungsprinzipien sein will, lässt oftmals schmunzeln. Ob man dadurch vielleicht selbst innerlich lockerer wird? Gut passt, dass Doris Uhlichs letztlich quasi sanfte „Revolte gegen alle Gesetze und Regeln, nach formlosem Sturm und Drang“ den ausrufe- und fragezeichenlos programmatischen Titel „In Ordnung“ inszeniert.
Entfesseltes Theater
Alles Konstruktive ihrer sich ins Turbulente steigernden Inszenierung erinnert an das „entfesselte Theater“ des russischen Regisseurs Alexander Tairow: Farbige Punkte und sich im engen Miteinander widersprechende symbolische Zeichen bilden ein zwangsweise in die Irre führendes Leitsystem. Sie pflastern ein unberechenbares, partiell ferngesteuertes, mobiles, aus alten Dekorations-Elementen des Theaterfundus zu einer futuristisch-funktionalen, flexibel bespielbaren Ausstattung zusammengeschraubtes Bühnenbild. Es wird gezogen und geschoben, gedreht und immer schneller mit allem herumhantiert. In einem Schlangendefilee werden Treppen erklommen und Tunnel durchquert. Dynamik pur, die die Choreografin wiederholt zwischen statischen Polen ausbrechen lässt. Da kleben die Schauspieler plötzlich wie fest geeist in Raum und Zeit an dem Gestänge. Wurde eben noch heftig am Metall gerüttelt, so verharrt jeder in einer anderen Pose am Platz und strahlt eine Ruhe traumartiger Verlorenheit aus.
Es kann Zufall sein, dass Tairows Aufzeichnungen und dessen Bühnenreform vor 100 Jahren auch im deutschsprachigen Raum für Aufsehen und Diskussion sorgten. Die österreichische Choreografin, Performerin und Tanzpädagogin Doris Uhlich mag davon inspiriert gewesen sein oder nicht – sich und ihrer Art, Menschen in Bewegung und ab und an ein ganzkörperliches Flattern und Zittern zu versetzen, ist sie jedenfalls treu geblieben.
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