„Balau“ von Serge Aimé Coulibaly

Intensives Memento Mori

„Balau“ von Serge Aimé Coulibaly an den Münchner Kammerspielen

In Coulibalys neuem Tanztheaterstück fusionieren Interpret*innen zweier Ensembles und Bewegungsintensität mit packenden Textbestandteilen von Fiston Mwanza Mujila.

München, 17/10/2024

Auf der Bühne sieht es aus als wäre gerade ein riesiger Ballon aus feingemustertem Tischdeckenstoff zerplatzt. Unregelmäßig ausfransend hängen seitlich schwarz angeschmutzte Reste wie Sofitten von der Decke. Sie engen den Raum höhlenartig ein. Vorne formen einige weiße, luftgefüllte Blasen eine Art wolkig-schwebenden Portalrahmen. So ein Ort (Ausstattung: Eve Martin) kann alles sein – Himmel oder Hölle. Es gibt Platz für Wünsche, Hoffnungen, Einsamkeit, Verzweiflung und Frustration. Den Hafen des Glücks von der Geisterbahn menschlicher Gefühle trennen in Serge Aimé Coulibalys neuem Tanztheaterstück „Balau“ lediglich die sich oft und im fließenden Wechsel verändernden Gesichtszüge der insgesamt acht Protagonist*innen. Vor allem ihretwegen ist der sich – sogar in den gesprochenen Passagen – dezidiert körperlich vermittelnde Abend sehenswert. 

Insbesondere der Besetzungsmix zeichnet die im Team an den Kammerspielen kreierte Uraufführung neben den schlagkräftigen, inhaltlich motivierenden und eindrücklichen Textsequenzen des preisgekrönten kongolesisch-österreichischen Autors Fiston Mwanza Mujila aus. Fragt man sich zu Beginn der Vorstellung noch irritiert, was hier wohl für eine seltsame Single-Party abgehen soll, wächst vor den Augen des Publikums bald langsam, doch stetig eine absurd zusammengewürfelte Schicksalsgemeinschaft zusammen. 

Regielich gut angeleitet wissen sich die fünf Ensemblemitglieder der Münchner Kammerspiele – Erwin Aljukić(nicht immer im Rollstuhl), André BenndorffNadège Meta KankuAnja Signitzer und Martin Weigel – physisch enorm präsent in ihre namenlosen Rollenprofile hineinzusteigern. Jedem einzelnen hat der aus Burkina Faso stammende Choreograf Serge Aimé Coulibaly für den ersten Auftritt ein eigenes Bewegungsrepertoire auf den Leib geschneidert. Dazwischen mischen sich zwei Tänzerinnen (Chloé Ata A Njoya, Daisy Ransom Phillips) und der sich später famos in die Lüfte katapultierende und wiederholt gefährlich zu Boden stürzende Tänzer Ahmed Soura aus Coulibalys eigener Kompanie, dem Faso Danse Théâtre. Sie alle eint der Drang, das merkt man schnell, eine – ihre? – Geschichte(n) zu erzählen. 

Nach und nach machen sich die Acht erst einmal tänzerisch auf der Bühne breit. Der eine nimmt verlegen auf einem der Gartenstühle Platz. Neben ihm schwoft eine Dame im schicken Jackett. Eine andere Frau entert die Bühne Huckepack. Das Paar winkt und grinst in den noch hellen Zuschauerraum. Dahinter stürmt ein Wesen im glitzernden Minikleid und expressiv im tiefen Plié und Cambré wie einst die Ausdruckstänzerin Valeska Gert in Diagonalen hin und her. Wie aus dem Nichts steht plötzlich ein langer Tisch im Raum. Rechts und links geraten je drei Personen in einen mimischen Zwist. Die Szene erinnert in ihrer Prägnanz fast schon an Kurt Jooss’ tolles (Anti-)Kriegs-Ballett „Der grüne Tisch“. Die Braut an der Schmalseite schmiegt zärtlich den Kopf an die Schulter ihres Partners.

Sieben Tableaux – jedes thematisch strukturiert durch das im digitalen Programm auf Deutsch und Französisch veröffentlichte Langgedicht von Fiston Mwanza Mujila – 

gilt es in 70 Minuten spielerisch stark und emotional zerrissen zu bezwingen. Dramatisch wird es nach einem Defilée: Da werden der vorne auf dem Tisch stehenden Jungvermählten so lange und so viele abenteuerliche Geschenke von Gold bis zu Krankheiten in verschnürten Päckchen überreicht, bis diese einem Mann tot in die Arme kippt. Womit wir beim Vorstellungstitel „Balau“ wären, der in der westafrikanischen Sprache Dioula ein unerwartetes Ereignis respektive einen persönlichen, politischen, sozialen oder wie auch immer gearteten Schicksalsschlag bezeichnet. 

Dass Martin Weigel kurz vor Stückende quasi die Maske fallen lässt und das Publikum direkt mit Fragen nach Gleichheit oder Wahrheit und die Bedeutung von Grenzen zusätzlich aufzurütteln versucht, erscheint überflüssig und als Bruch innerhalb einer rundum schon motorisch-akustisch wirkungsvollen Inszenierung einfach zu hart. Antworten bleiben Autor und Regisseur zwar schuldig, die wundervolle Gruppe bewegt sich aber weiter im immer dunkler werdenden Raum.

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